miromente 10

miromente 10 (Doppelnummer) -  Dezember 2007

 

JAN HELLER LEVI
Poems (Englisch)

KELLER + KUHN
Maag & Minetti - Stadtgeschichten

GABRIELE BÖSCH
Ninive

ULRIKE ULRICH
Aus freien Stücken

LEO TUOR
mar e mir (Rätoromanisch/Deutsch)

WOLFGANG HERMANN
Gerechtigkeit

STEFANIE GOLISCH
Old men

CONSTANTIN GÖTTFERT
Stillleben mit Fischen

ALOIS SCHÖPF
Durchführung

DANIELA EGGER
Nonnen und Nomaden

WOLFGANG MÖRTH
Blatt vor dem Mund

KURT BRACHARZ
Warum Gregor Samsa nicht zum Fenster hinaus flog
Säbi Zit in Züri

GABRULOWITSCH
Gabrulowitschs Lebenswaishäuten
Glühende Birnen


Mauszeichnungen von Ulrich Gabriel



LESEPROBE
(aus: Keller+Kuhn - Maag & Minetti, Stadtgeschichten)

Alle Schönheit dieser Welt

Der Flug verlief wie immer problemlos. Nachdem ihn das Flughafen-Shuttle in eines der traditionsreichen Hotels am Wenzelsplatz gebracht hat, gönnt er sich eine kurze Siesta. Dann aber zeigt Maag, was routinierte Reisende aus einem Städteflug herauszuholen in der Lage sind. Karlsbrücke, Kleinseite, Aufstieg zum Hradschin, dessen zielstrebige Umrundung und Eroberung, inklusive Goldgasse und körperliche Stärkung mit einem Pils und Pragerwürstchen. Da er sich last minute zu diesem Flug entschloss, gibt er sich mit einem Zentralbräu und den im Kühlschrank vom letzten Wochenende übriggebliebenen Wienerwürstchen zufrieden. Die Marillenknödel zur Nachspeise ersetzt er durch ein Petit Beurre. Später schiebt er die Videokassette mit dem tschechischen Film Scharf beobachtete Züge von Jiri Menzel in den Recorder. Die Flasche Pichon-Lalande, die er sich dazu gönnt, hat zwar nichts mit Prag zu tun, ist aber ein eindeutig erfreulicherer Stilbruch als jener mit dem Zentralbräu. Zufrieden knäuelt er mit ein paar Fausthieben sein Kopfkissen zur gewohnten Kissenwurst und schläft auf der Stelle ein.

Am folgenden Morgen steht er eine Stunde zu früh auf, da er vergaß, das Weck-Radio auszuschalten, dafür hat er Kafkas Geburtshaus in der U radnice Nr. 5 (im Korridor) und danach dessen Grab auf dem Neuen Jüdischen Friedhof (im Haushaltzimmer) praktisch für sich allein. Ausgerechnet hier beginnt er ausgerechnet Ana Bela zu vermissen. Wäre es nicht schön, eine solche Reise einmal mit ihr zu machen? Nicht einmal im Traum hätte er daran gedacht, dass sein Wunsch so schnell in Erfüllung gehen könnte, denn schon winkt sie ihm in jenem besonders kurzen Sommerkleid auf jene besondere Art zu, die verrät, dass sie sich ihrer Wirkung vollauf bewusst ist. Und dass sie ihn auch vermisst hat.

Bevor es wieder Zeit wird, an die Rückreise zu denken, liest er einige Abschnitte aus der Erzählung Das Urteil und gedenkt wehmütig Georg Bendemanns. Darauf wandert er mit Ana Bela am Arm altstadtwärts und sie verlieren sich in den engen Gassen, bevor sie doch noch rechtzeitig den Bus erreichen, der bereits mit laufendem Motor wartet. Noch im Flugzeug überlegen sie, welchen Städteflug sie als Nächstes in Angriff nehmen könnten: Berlin? Lissabon? Paris, das man nie ganz gesehen hat, wie Ana Bela zu Recht findet?

„Weshalb nicht noch einmal Prag?“ murmelt er, verblüfft, wie erotisch seine Stimme klingt. Lange stellt er sich vor sein Bücherregal, bis er es sich schließlich mit Alle Schönheit dieser Welt, den Erinnerungen Jaroslaw Seiferts, auf dem Sofa gemütlich macht.