miromente 11
miromente 11 - März 2008
MICHAEL STAVARIČ
Nkaah
AMREI WITTWER
Comic-Serie
ULRIKE DRAESNER
Trullas Boot
EGYD GSTÄTTNER
Der letzte Tag des Carlo Michelstaedter
GEORG PETZ
Eiszeit
WOLFGANG MÖRTH
swiss view
KATHARINA BENDIXEN
Sonnenempfindlichkeit
KURT BRACHARZ
Hont ra roo roo meero men tay
GABRULOWITSCH
Analog
Digital
Mauszeichnung Ulrich Gabriel
LESEPROBE
(aus: Egyd Gstättner - Der letzte Tag des Carlo Michelstaedter)
Das Studium war meine Galgenfrist. Die ist jetzt zu Ende.
Heute bin ich dreiundzwanzig, morgen bin ich Doktor, und übermorgen fängt das Leben an. Aber wie soll ich das machen: Leben? Was heißt das und wie geht das: Leben? Ich bin dazu weder qualifiziert noch ausgerüstet, Vladimiro! Ich müsste, um mein Leben zu leben, bei null anfangen mit meinen dreiundzwanzig Jahren. Das Leben ist etwas Unmögliches. Allein durch ihre Art zu leben, haben mich meine Eltern gelehrt, daß das Leben unheimlich kompliziert und widerwärtig ist. Nur das widerwärtige Leben ist das richtige Leben, das wahre, das eigentliche. Durch ihre Art zu leben haben mich meine Eltern gelehrt, daß das Leben etwas so Schwieriges ist, daß man es praktisch nicht schaffen kann: Ich jedenfalls auf gar keinen Fall. Ich kann ein bisschen zeichnen. Aber leben kann ich nicht. Zeichnen ist etwas für Kinder. Alle Kinder zeichnen. Und alle Erwachsenen hören zu zeichnen auf. Man müsste sich die Frage stellen, warum ich mit dreiundzwanzig Jahren noch immer nicht zu zeichnen aufgehört habe. Ich kann das Grab meines Bruders pflegen und eine Doktorarbeit schreiben. Aber leben kann ich nicht. Ich kann mit Paula, Fulvia und Argia ein paar Tage nach Piran fahren, Scampi essen und baden gehen. Aber leben kann ich nicht.
Nur die hervorragendsten Repräsentanten der Menschheit schaffen es, ihr schwieriges Dasein zu bewältigen, indem sie Friseure werden. Die Philosophie ist dazu da, dass der Friseur während des Frisierens etwas zu plaudern hat. Meine Mutter und mein Vater sind unfehlbar: jedes Mal, wenn sie in ihrem Leben vor einer Entscheidung gestanden sind, haben sie mit Weisheit und Verstand die richtige – jedenfalls bestmögliche – Entscheidung getroffen. Jedes Problem haben sie gelöst. Keinen Fehler haben sie sich zuschulden kommen lassen, weshalb sie sich zeitlebens auch für keinen Fehler entschuldigen mussten. Ein Fehler ist das, was die anderen machen. Eltern funktionieren wie Regierungen und erhalten sich wie Regierungen ihre Macht durch permanentes Eigenlob, permanente Propaganda. Überbordend intelligent haben sie, während alle anderen immer das Falsche geglaubt und das Falsche gedacht und das Falsche getan haben, immer das Richtige geglaubt und immer das Richtige gedacht und immer das Richtige getan. Und deshalb sind sie Friseure geworden.
Der Friseur seiner Stadt gehört zu den Spitzen der Gesellschaft, und mein Vater ist nicht irgendeiner, sondern Stadtfriseur. Stadtfriseur ist zwar kein rechtlich geschützter Titel. Mein Vater hat sich einfach so genannt kraft seiner Autorität und über seinen Frisiersalon „Stadtfriseur“ geschrieben. Und meine Mutter erst! Die ist die Görzer Frisierautorität: Es geht ein Raunen durch die Bevölkerung, wenn sie auf die Straße tritt und bei einem kurzen Informationslustwandel mit strengem Blick die Frisuren der Bürgerinnen und Bürger mustert. Das ist ja das Schöne in einer kleinen Stadt, daß jeder jeden kennt. Nur ich Niemand kenne niemanden. Ich bin bloß darin geübt, wie ein Schatten meiner selbst an Hauswänden entlang zu schleichen und niemanden wahrzunehmen, niemanden zu sehen, niemanden zu grüßen. Ich bin in allem und jedem das genaue Gegenteil eines Friseurs. Ginge es nach mir, würde ich das Haarschneiden weltweit unter Strafandrohung verbieten und die Menschen ganz einfach zuwachsen lassen, so daß sie nichts mehr sehen und nichts mehr hören und auch nichts mehr tun können. Zuerst würden die Haare eines jeden Menschen über seine Augen und sein Gesicht wachsen, dann über Hals, Brust, Bauch und Rücken, über die Geschlechtsteile, über Beine, Füße und schließlich wie die Schärpe eines Brautkleids, aber nicht nur nach hinten, sondern auch nach vorn, nach links und rechts und allen Seiten und überall hin, so daß die Menschheit anhand der Mähnen ihrer Einzelteile tatsächlich zusammenwachsen und ein einziges, völlig verfilztes Wesen, bestehend aus drei Milliarden ineinander verflochtener Haarbüschel würde, so daß schließlich unser ganzer Planet total behaart wäre: Ein völlig friedlicher, absolut gewaltfreier Genozid, einfach durch globalen Friseurverzicht. Aber es geht nicht nach mir...