miromente 14

miromente 14  -  Dezember 2008

 

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LESEPROBE aus:

Rückwärts
von Clemens J. Setz


Anselm lag verdreht in seinem Bett. Es tat zwar weh, aber es war niemand neben ihm, also konnte er sich diese Freiheit erlauben. Der eine Arm lag quer unter ihm, der andere streckte sich neben seinem Kopf in Richtung Wand aus, kam aber niemals dort an.

Seine große Müdigkeit überspielte den Schmerz, der durch die verdrehte Haltung entstehen musste. Anselm spielte während des Eindösens mit Zahlen herum. Er multiplizierte eine große Zahl mit einer noch größeren, dividierte dann alles, so gut es ging, durch sieben, teilte die Zahl in der Mitte, sodass wiederum zwei Zahlen entstanden und fing von vorne an. Sein Kopf tat das fast von selbst, es war ein übliches Einschlafritual. Manchmal hörte er bei bestimmten Zahlen fremdartige Geräusche in seinem Kopf.

Sein Gehör war, wie immer, als letztes noch wach. Er hörte die gedämpften Stimmen der Menschen über und unter ihm, die sich mitten in der Nacht aufraffen mussten, um zur Arbeit irgendwo in einem weit entfernten Winkel der Stadt zu gehen. Sein Gehirn war dafür schon zu müde, aber sein Gehör bemitleidete diese Menschen im Stillen. Er hörte das Hupen von ungeduldigen Autos, unten vor dem Haus.

Dann fuhr ein Lastwagen irgendwo im Rückwärtsgang. Das charakteristische monotone Piepsen.

Das Rückwärtsgang-Signal des Lastwagens weckte Anselm wieder ein wenig auf. Er tastete sich zuerst in seinen Decken zurecht, realisierte seine verdrehte Körperhaltung und stand unter einigen Schmerzen auf.

Vom Fenster sah man nur den hinteren Teil des Lastwagens, der im Schneckentempo versuchte, eine viel zu schmale Kurve zu fahren. Er musste Zentimeter für Zentimeter rückwärts fahren, um genügend Anlaufstrecke zu haben. Die ganze Gegend hallte vom gellenden Warnsignal wider.

Anselm ging wieder ins Bett. Das Signal hatte noch nicht aufgehört, aber die Müdigkeit kam unerwartet wieder, wie eine angenehme Erinnerung. Als er wenig später aus dem Schlaf hoch schreckte, blinzelte er zuerst auf seine Uhr. Er hatte den wichtigen Termin verpasst, er hatte fast drei Stunden geschlafen! Und wieder war ein Lastwagen dabei, unendlich langsam rückwärts zu fahren. Das Signal war dasselbe wie vorhin. Vielleicht war es immer noch derselbe LKW. Anselm stand auf, seine Gelenke knackten zur Begrüßung. Er ging zum Fenster. Es ging nur sehr schwer auf, als wäre es seit heute Morgen plötzlich eingerostet. Diesmal war der Lastwagen nicht zu sehen, wahrscheinlich war er gerade um die Ecke oder fuhr durch die Einfahrt des Hauses. Die Einfahrt, dachte er, war wirklich sehr schmal. Es konnte Stunden dauern, bis man mit einem LKW da durch war.

Er zog sich an, was nicht ohne Schmerzen möglich war. Sein Fleisch und seine Gelenke schienen ein besseres Gedächtnis zu haben als sein Gehirn. Sein Körper vergaß und verzieh ihm nie etwas.

Im Kühlschrank fanden sich Bestandteile früherer Mahlzeiten, die Anselm mit einigem Geschick zu einem Frühstück umgestaltete. Es gelang ihm. Gut. Nicht Schlecht. Genau. – Er horchte auf den Rhythmus, der sich von irgendwo in seine Gedanken eingeschlichen hatte. Ja, der Lastwagen fuhr immer noch rückwärts.

Er entschied sich, in die Stadt zu gehen. Die Stadt. Stadt. Stadt.

Er pfiff mit dem belästigenden Morseton mit, als er die Wohnung verließ und die Treppen hinunterging. Er hasste den Lift, da er einmal in ihm stecken geblieben war und nur ruckweise, in stundenlanger mühsamer Zentimeterarbeit des Hausmeisters daraus befreit worden war.

In der Einfahrt des Hauses befand sich kein Lastwagen, obwohl das Geräusch hier unten noch deutlicher zu hören war. Aber vielleicht lag das daran, dass der LKW inzwischen schon wieder woanders war. Irgendwann musste er ans Ziel kommen.

Ziel, Ziel, Ziel.

Seltsam, es war sehr leicht, den Fluss seiner Gedanken diesem Rhythmus anzupassen, bemerkte er. Natürlich durfte er das nicht zu oft tun, denn das würde nur zu einem lästigen Ohrwurm führen, wie in den Fällen, da man zu sehr, zu innerlich mit einer im Grunde lächerlichen Melodie mitsingt und sie bleibt einem stunden-, tagelang im Gehör, ein im Lampion des Kopfes gefangenes Insekt.

Er musste dem unsichtbaren Lastwagen die ganze Zeit gefolgt sein, stellte Anselm fest, als er ein paar Häuserblocks weiter war. Vielleicht fuhr dieser ja in einer Parallelstraße in dieselbe Richtung. Das wäre immerhin nichts Neues, denn Anselm war absurdes Pech in seinem Leben gewöhnt.

Er suchte in seinem Mantel nach Zigaretten, erinnerte sich aber, dass er aufgehört hatte. Sogar solche Dinge hatte sein Gehirn nach bereits einem Tag wieder vergessen. Seine Zähne und seine gelblichen Finger hingegen nicht – Er lachte kurz auf. Seine Stimme traf ohne Absicht genau die Tonhöhe des Signals und er erschrak.

(...)