miromente 38

Näheres zu den Autor_innen dieser Nummer: Der in Berlin lebende Ron Winkler ist mit seinen Gedichten bereits zum dritten Mal in der miromente vertreten, denn wir halten ihn für eine der wichtigsten lyrischen Stimmen im deutschsprachigen Raum. Max Lang, dessen letztes Stück Im Reich der Mitte im September 2013 im Theater Kosmos uraufgeführt wurde, veröffentlicht hier zum ersten Mal Kurzgeschichten. Linda Achberger, die zu den bemerkenswerten Vorarlberger Autorinnen der jüngsten Generation zählt, präsentiert unter dem Titel Vierzehn tagende Momente einer ihrer sowohl formal als auch inhaltlich eigenwilligen Erzählungen. Und der Grazer Georg Petz, er las in diesem Jahr beim Ingeborg-Bachmann-Preis, hat uns zwei Erzählungen aus dem Band Millefleurs zum Vorabdruck überlassen, der im Jänner beim Leykam-Verlag erscheinen wird. Die Bilder stammen von Udo Rabensteiner, dessen enorm starke zeichnerische Handschrift in der Lage ist, den visuellen Charakter dieser Nummer nachhaltig zu prägen.

Wolfgang Mörth

miromente 38  -  Dezember 2014

RON WINKLER
Das Leuchten der Quallen

UDO RABENSTEINER
Häutungen

MAX LANG
Der Abend. Der Gast. Der Morgen

LINDA ACHBERGER
Vierzehn tagende Momente

GEORG PETZ
Ein Ausflug zu dritt

UDO RABENSTEINER
Architektur des Rückens

GEORG PETZ
Shanghai Finish

WOLFGANG MÖRTH
Der stille Meister
Rede für Robert Polak

Leseprobe:

Der Abend
von Max Lang 

Die Datscha war von einem hohen Bretterzaun umgeben, über dem nur der Himmel zu sehen war. Der Zaun umfasste das ganze Grundstück, auf dem sich das kleine einstöckige Haus befand.
Er lebte nun schon fast einen Monat lang bei den zwei Frauen, die beide in der örtlichen Verwaltung arbeiteten und meistens erst spät nachhause kamen. Er war ihr Gast, und in ihrer Abwesenheit lernte er russische Vokabeln. Manchmal ging er in den Garten hinaus, rauchte eine Zigarette, schaute dem Hund zu, der sich von seinem Zwinger fortbewegte, zu ihm zurückkehrte, und dann drückte er seine Zigarette aus, ging wieder hinein und legte sich auf sein Bett, um die kyrillische Schrift zu entziffern.
An jedem Samstagabend kamen die Familien der beiden Frauen auf Besuch, und alles, was es in der Küche zu essen gab, wurde aufgetragen. Es gab Kartoffeln, Fleisch, Fisch, Salate,  eingelegtes Gemüse, Wodka und Rotwein. Um Mitternacht wurde dann der Samowar auf den Tisch gestellt, und man trank ein paar Schlücke Tee, erholte sich von dem vielen Gerede, dem vielen Essen und Trinken.

Er hatte an diesem Abend schon genug gehört, gegessen und getrunken. Er hatte ein paar Mal versucht, sich mit den anderen zu unterhalten. Aber er hatte sie nur schlecht verstanden. Er war jetzt im Garten, lehnte an der Hauswand. Er schaute zum Zaun hinüber, auf die hohen Holzlatten, in den klaren Nachthimmel hinauf.
Er hörte die anderen laut auflachen. Sie redeten jetzt immer schneller. Es wäre sinnlos, gleich wieder hinein zu gehen. Er könnte dem Gespräch nicht mehr folgen. Er musste warten. Er freute sich auf den Moment, in dem der Samowar aufgetragen wird, in dem endlich Ruhe einkehrt, bevor alle aufbrechen, nachhause und in ihre Betten gehen.

Er bewegte sich ein wenig und schaute immer wieder zum Küchenfenster hinüber. Der Hund folgte ihm. In der Nacht passierte es manchmal, dass der Hund zu bellen anfing, und dann stimmten alle Hunde in den Nachbargärten in das Gebell ein, das oft viele Minuten, manchmal ganze Stunden andauerte.
Er überlegte, ob es Sinn machte, noch länger hier zu bleiben. Er würde nicht mehr viel lernen. Er brauchte jemanden zum Reden. Er müsste es den Frauen bald sagen, müsste von seiner verfrühten Abreise berichten, er müsste versuchen, es ihnen so gut wie möglich zu erklären.
Im Küchenfenster erschien jetzt eine der beiden. Sie stellte ein paar Schüsseln und Gläser ab und verschwand wieder im Wohnzimmer.
Er war auch an den vorherigen Samstagen um diese Uhrzeit vor die Tür gegangen. Er hatte ein paar Minuten hier gestanden, zum Zaun geschaut, in den Nachthimmel hinauf. Er hatte den Hund beobachtet, der um seinen Zwinger strich, hatte die lauten Stimmen gehört, hatte nachgedacht, kurz durchgeatmet und war wieder hineingegangen.
Die Frau kam wieder in die Küche, stellte ein paar Teller ab, räumte etwas um, hielt kurz inne und schien zu überlegen.
Es hatte wirklich keinen Sinn mehr, länger hier zu bleiben, an diesem Ort, an dem es nichts zu holen gab. Er würde bald in die Datscha zurückgehen und sich im Stillen von der Familie verabschieden. Davor würde er noch den Hund streicheln, damit er in der Nacht ruhig bliebe.
Die Frau öffnete jetzt einen Schrank, hob einen schweren Bottich heraus und stellte ihn ins Waschbecken.
Sie würde ihn bald auf den Herd stellen und einschalten. Während das Wasser aufkochte, würde sie die Teeblätter in die kleine Kanne geben und anschließend das heiße Wasser darüber gießen. Die Kanne würde sie dann auf den Bottich stellen. Der Bauch des Samowars wäre voll und schwer, und sie würde ihn an beiden Henkeln ins Wohnzimmer tragen.
In diesem Augenblick würde er hinein gehen und sich zu den anderen setzen, die mittlerweile ruhig wären, den Blick auf den Samowar in ihrer Mitte gerichtet.