miromente 4

miromente 4 - August 2006


FRANZ RÜDISSER
usserstella

EMINE SEVGI ÖZDAMAR
Gastgesichter

KURT BRACHARZ
Ein Gespräch in einem Verlagshaus über den abwesenden Herrn Brown

DANIELA EGGER
neun musen

SUSANNE BRUTTER UND WOLFGANG LINDER
Komplett durch den Wind

FRANZOBEL
Gelegenheitsgedichte

WOLFGANG MÖRTH
Vormieter

WWW.BZV.AT
Parteiprosa

ULRICH GABRIEL
Letzte Ölung


(Mauszeichnungen von Ulrich Gabriel)



LESEPROBE
(aus: Emine Sevgi Özdamar - Gastgesichter)

Als Kind in Istanbul war das erste europäische Wort, das ich gehört habe:

„Deux-Pièces“. Meine Eltern gingen jeden Montag zu einem Kino das „Teyyare Sinemasi“ hieß. Das bedeutete auf deutsch: Flugzeugkino. Dieses Kino zeigte nur europäische Filme. Meine Mutter erzählte mir von dem Besitzer des Flugzeugkinos, der sich selbst wie ein Filmstar verkleidete und die Besucher am Eingang seines Kinos empfing. Er wusste, dass die Zuschauer in manchen europäischen Filmen, die er zeigte, weinen würden. Für solche traurigen Filme ließ er aus feinen Stoffen Taschentücher herstellen, die er persönlich vor dem Kino verteilte. Meine Mutter gab mir eines von diesen Tüchern, mit dem sie im Kino ihre Tränen getrocknet hatte. Ich legte dieses Taschentuch mit den Tränen meiner Mutter in meinen Schulatlas, genau zwischen die Seiten, wo Europa abgebildet war.

Meine Mutter und mein Vater zogen sich jeden Montag sehr schick an, um zum Flugzeugkino zu gehen. „Was wirst du anziehen?“, fragten sie jedesmal. Einmal sagte meine Mutter: „Ich werde mein „Deux-Pièces“ anziehen“. Ich fragte: „Mutter, was heißt „Deux-Pièces?“ „Deux-Pièces ist Deux-Pièces“, antwortete meine Mutter.

Meine Grossmutter war eine abergläubische Frau. Sie hatte Angst, dass die Schatten auf der Leinwand die Gesichter meiner Eltern wegnehmen würden. Am nächsten Morgen fragte ich meine Eltern, was sie im Kino gesehen hatten und wie der Film hieß. Mein Vater antwortete, „ich hab vergessen, wie der Film heißt, aber schau, der Schauspieler Jean Gabin raucht so“, und er machte Jean Gabin nach, wie er rauchte. Die Zigarette steckte in seinem Mundwinkel, bis die Asche herunterfiel. So rauchte mein Vater ein paar Wochen lang wie Jean Gabin, bis er an einem anderen Montag im Flugzeugkino einen Film mit Rossano Brazzi sah und am Dienstag zu Brazzi überwechselte. So waren unsere ersten europäischen Gäste in unserem Istanbuler Holzhaus Jean Gabin und Rossano Brazzi. Als Kind hatte ich Schwierigkeiten, die Namen unserer europäischen Gäste richtig auszusprechen und fand für Jean ein türkisches Wort, „Can“, was auf türkisch „die Seele“ heißt, also „Seele Gabin“, und für Brazzi, das türkische Wort, „Biraz iyi“, das bedeutet auf deutsch, „ein bisschen besser“. Bevor ich ins Kino ging und „Seele Gabin“ und „Rossano Einbisschenbesser“ selbst auf der Leinwand sah, hatte ich sie schon im Gesicht und Körper meines Vaters kennengelernt. Auch meine Mutter brachte in ihrem Gesicht und ihrem Körper zwei europäische Gäste nachhause: Silvana Mangano und Anna Magnani. Für ihre Namen gab es auf türkisch auch ähnliche Wörter: „Silbana“, d.h. wisch mich ab, Mangano, und „Ana“, d.h. Mutter, Magnani. Die ersten Gesichter, die zwischen den Ländern ausgetauscht wurden, waren die Filmgesichter
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