miromente 40

In dieser Nummer stellen wir einen Ausschnitt der längeren Erzählung Farn vor, mit der Christoph Linher, für uns nicht überraschend, den Vorarlberger Literaturpreis 2015 gewonnen hat. Ebenfalls kraftvoll und intensiv das Fragment das geheime Werk von Wolfgang Bleier, der uns damit einen aktuellen Blick in seine Werkstatt erlaubt. In idealer Verbindung dazu die Bilder von Markus F. Strieder, die mit einem in Tusche getauchten Besen gezeichnet sind, ein Verfahren, das es ermöglicht, die Energie kollidierender Galaxien darzustellen. Und Daniela Eggers poetische Reflexion mit dem Titel Das Schwarz beherrschen, die das Heft eröffnet, handelt von einem Zeichner, der mit Tusche arbeitet, und seinem Kampf gegen das Scheitern.

Wolfgang Mörth

miromente 40  -  Juni 2015

MARKUS STRIEDER
Balayages

DANIELA EGGER
Das Schwarz beherrschen

WOLFGANG BLEIER
das geheime Werk

CHRISTOPH LINHER
FARN
Eine Erzählung aus dem Off

Leseprobe:

FARN
von Christoph Linher

Für Höller will ich mich nicht erinnern. Dabei ist das Erinnern auch bloß eine Spielart des Vergessens. Vor allem im Hinblick darauf, dass noch jede Erinnerung irgendwann zur leeren Larve geworden ist, blutleer und wirklich: zum Vergessen. Und in Wahrheit hilft das Erinnern meinem allmählichen Gedächtnisverlust auf die Sprünge. Aber Höller ist da zu praktisch veranlagt... Irgendwann werden sie alle abgenutzt sein, die Leitfossilien und Sedimente, die isolierten Düfte, die Klangnarben auf der Ohr- membran, die Geschichten und Reflexe. Ich könnte ihm auch sagen: Ich hätte Höller auch sagen können, dass die Bedeutungen irgendwie aus ihren Begriffen herausfallen, sich langsam aus ihrer Form zu lösen beginnen, wie der in Eisenoxiden gebundene Sauerstoff der Urozeane... oder wie freie Radikale – hätte ich sagen können – zu geduldigen Wortzersetzern werden. Als etwas Unaussprechliches haften sie plötzlich an jeder Silbe wie an jeder noch so kleinen Einheit das Astronomische, Maßlose, Unfassbare: Amöbe, Trilobit, Farn, gebundene Rotation... Soll verstehen, wer will – mir wurde schwindlig, als ich las, dass sich das fallende Laub im Herbst messbar auf die Erdgeschwindigkeit auswirkt. Es beginnt einem der Kopf zu dröhnen, wenn man die Wörter von ihrer Unschuld befreit. Sie aus ihren grauen Zellen, aus der Vorstellungsscheue entlässt. Wie die Geier schwirren sie einem um den Schädel. Ich verliere mich dann nicht selten in Versatzstückhandlungen. Sammle allerhand vom Boden auf, nur um das Gefundene am Ende wieder wegzuwerfen. Ich sage nichts, biete Höller stattdessen etwas zu trinken an. Er lehnt ab. Gemeinsam warten wir, bis er wieder geht.

Dann also die wochentliche Inventur: eine Füllfeder mit Namensgravur, ein Notizheft, eine Porzellanschale, eine Postkarte ohne Absender, ein Plastikglobus, eine zeigerlose Taschenuhr, Karl Friedrich Wilhelm Wanders Sprichwörterlexikon in fünf Bänden, eine Glasmurmel, eine Dokumentenmappe. Das sind also die Gegenstände, von denen ich glaube, sie zu besitzen. Bis vor Kurzem habe ich mich jede Woche von einem von ihnen getrennt, aber offengestanden fällt es mir von Mal zu Mal schwerer. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich Angst, ohne genau zu wissen wovor. Oft verschiebe ich es dann auf den nächsten Tag, die nächste Woche. Wenn die endgültige Trennung zwar noch nicht vollzogen ist, aber kurz bevorsteht, gerinnt die bloße Vorstellung zur Tatsache und man wird zum Zeitreisenden. Auch bin ich dann empfänglich für profane Verstrickungen. Würderesistenz. Allnachtsphantasien. Das eigene Leid ist immer das größte in der Welt. Und dunkelhörig sind die Wände. Schnell also das Fenster aufgemacht, doch auch das kennen wir schon von früher: der Regen sehr geradlinig, der Wind uneigentlich wie immer, orches- tergrabentief die Grillen, die Singvögel baumkronenfüllend, aber unsichtbar wie eh und je. Mein Bildnis zwischen gesetzten Rahmen im Grunde das einzig Denkbare, doch ginge ich durch den Wildwuchs (ehemals Rasen), vorbei an den Frühbeeten: Ich fände den Teich dahinter spiegellos. Wohin man sich hier auch bewegt, man bekommt immer nur das Echo auf das eigene Stummsein.

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