miromente 45

Zum Inhalt dieser Nummer: Besonders hinweisen möchten wir auf die Texte des 29jährigen Syrers Hamed Abboud, die uns nicht nur wegen der politischen Brisanz des darin Geschilderten beeindruckt haben, sondern auch wegen ihre literarische Qualität. Dann freuen wir uns, erstmals einen Text von Amos C. Postner, einem Mitglied der Jungen Szene von Literatur Vorarlberg, präsentieren zu dürfen, genauso wie wir uns freuen, dass uns Ron Winkler zum wiederholten Mal die Gelegenheit gibt, eine unserer Nummern mit dem Abdruck seiner Gedichte aufzuwerten.
Beglückwünschen wollen wir Isabella Krainer zum Gewinn des Hilde-Zach-Stipendiums der Stadt Innsbruck, das sie für die Gedichtserie b_randnotizen erhalten hat, und Eva Woska zum Astro-Art-Literaturpreis 2016, der ihr für die Kurzgeschichte Das Haar verliehen wurde, eine Fortsetzung der mit dem Harder Literaturpreis 2016 ausgezeichneten Erzählung Heinz, die in der vorletzten Nummer zu finden ist. Ebenfalls fortgesetzt hat Daniela Egger ihre Kriminalerzählung Endlich eine schöne Geschichte. Der erste Teil ist nachzulesen in der miromente 42. Und die Physiognomie- und Wort-Zeichnungen stammen von Ferdinand Ruef, der damit endlich mit seinen Arbeiten in der miromente vertreten ist.

Achtung! Der handgebundene Sammelband miromente 23 bis 32 (Auflage 36 Stück) ist da. Wieder im Schuber zusammen mit einer Künstlermappe, dieses Mal mit Original-Zeichnungen bzw. -Grafiken von Roland Adlassnig, Markus Getzner, Regina Götz und Kirsten Helfrich.

Und nach Das Reich der Mitte (Theaterstück) von Max Lang und Strohhalm in Luzifers Schweif (Erzählungen) von Marjana Gaponenko erscheint demnächst unter dem Titel Standardabweichungen der dritte Band der edition-miromente mit Gedichten von Maya Rinderer.

Bestellungen von miromente, edition-miromente und der drei bisherigen Sammelbände unter:

info@miromente.at

Wolfgang Mörth

miromente 45  -  November 2016

RON WINKLER
Neue Gedichte

FERDINAND RUEF
verkopft - zeichnungen

AMOS C. POSTNER
Der Vater, die Mutter, das Kind

EVA WOSKA-NIMMERVOLL
Das Haar

ISABELLA KRAINER
b_randnotizen

HAMED ABBOUD
Ich möchte einen Panzer fahren 

DANIELA EGGER
Endlich eine schöne Geschichte


Leseprobe:

Meine Kinder und ich warten auf ihre Mutter
von Hamed Abboud
aus dem Arabischen von Larissa Bender

 

Meine Liebste und ich
Wir werden Kinder haben
Fremde werden sie umringen
Und ihren Duft aufsaugen
Bevor sie sich wieder ihren eigenen Beschäftigungen widmen
In der U-Bahn wird ein weinendes Mädchen
Mit seiner Bluse
Die Tränen seiner verschmierten Augen abwischen
Daraufhin wird es lächeln
Denn es spürt einen Tritt in seinem Leib
Kinder weinen
Weil sie nicht wissen, wie man «ich liebe dich» sagt
Wenn unsere Kinder weinen
Werden wir ihnen deshalb gut zuhören
Als ob wir einer neuen Melodie lauschen
Oder uns eine neue Sprache aneignen
Wenn flüchtige Bekannte kommen
Beschäftigen sie sich mit den Gemälden
Und Familienfotos
Die an den Wänden aufgehängt sind

Wir werden Kinder haben
Die alle Sprachen dieser Welt sprechen
Denn unsere Tante «Leben» ist kurzsichtig
Und erkennt ihre Träume
Oder ihre Unschuld womöglich nicht
Also werden unsere Kinder sie
Mit romantischem Französisch
Diplomatischem Englisch
Oder unzusammenhängendem Türkisch
Überlisten

Unsere Tante «Leben» ist sehr gut erzogen
Und gebildet
Deshalb sind ihr nur diejenigen Kinder lieb
Die ihre Erwartungen in Bezug auf Gesinnung und Klugheit erfüllen
Und vielleicht können sie auch den Tod überlisten
Damit dieser unsere Kinder verschont
Und stattdessen uns mitnimmt
Unsere Kinder werden uns begraben
Und auf unseren Grabstein schreiben:
«Hier ruhen in Frieden jene, die uns die Sprache des Lebens gelehrt haben, 
Um die Stille des Todes zu überwinden.»
Unser Zeugnis über den Tod gilt nicht
So frag doch irgendwen

Wir möchten unsere Kinder aufziehen
Und uns mit ihren Ohrenentzündungen
Ihren Milchzähnen
Und ihren fröhlich rosafarbenen Linealen beschäftigen
Wir möchten, dass es unser Lebensziel wird
Dass die Kinder in der Schule Erfolg haben
Ausgezeichnete Noten heimbringen
Die Kinder unserer Nachbarn und unserer Verwandten ausstechen
Und letzten Endes
Auch uns selbst überflügeln

Meine Liebste und ich 
Möchten sie an den Ohren ziehen
Ihnen Höflichkeit beibringen
Sie lehren, ihre Versprechen einzuhalten 
Und ehrlich zu sein
Damit sie nicht zur Hölle fahren 
Und – absichtlich oder nicht – ihre Mutter
Damit meine ich meine Liebste
Ins Elend stürzen

Wir möchten wissen
Wie wir aus diesem Labyrinth
Als Sieger herausfinden
Wir hielten viel von der Welt
Doch die Welt hat das nicht geschätzt
Und ließ sich vom schwarzen Loch
Dem Krieg verschlingen
Und hält uns auf Trab
Belustigt über unsere Leichtgläubigkeit

Wenn die Ausrottung
Mit einem gesetzeswidrigen Mord an einem Menschen beginnt
Dann entsteht die gesamte Menschheit
Mit einem Kind und seinem Liebling in einer guten Schule
Mit realen Freunden
Welche die Zeit nicht mit Facebook in einer virtuellen Welt vergeuden.

Ich möchte ein Kind aufziehen
Und mit seiner Erziehung 
Dem Leben eine Lektion erteilen
All diese wunderbaren Dinge
Und noch Vieles mehr
Sind in meinem Notizbuch festgehalten
Und am Schluss, als Schlussstrich
Den ich mit dem fröhlich rosafarbenen Lineal zog
Schrieb ich:

Zuerst muss ich ihre Mutter finden.