miromente 50
Mit der miromente gründeten Kurt Bracharz, Daniela Egger, Ulrich Gabriel und Wolfgang Mörth im Sommer 2005 die erste regelmäßig erscheinende Literaturzeitschrift Vorarlbergs. Da die Herausgeber redaktionell unabhängig bleiben und zudem den Beweis antreten wollten, dass ein Periodikum rein literarischen Inhalts in Vorarlberg durch Abonnements finanzierbar sein müsste, verzichteten sie von Beginn an auf Landesförderungen. Auch von Werbeeinschaltungen der Privatwirtschaft wurde der Lesefluss übrigens nie gestört.
Als Zeichen der gemeinsamen Idee und Arbeit enthält die vorliegende Jubiläumsnummer 50 ausschließlich Texte des ursprünglichen Herausgeberteams. Die grafische Arbeit stammt von Sarah Rinderer, die dafür 6 Textseiten aus verschiedenen miromente-Nummern auswählte und deren rhythmische Struktur mittels Reduktion auf bestimmte Satzzeichen sichtbar machte. Sarah Rinderer ist es auch, die vor zwei Jahren die Aufgaben von Clemens Schedler bzw. Daniela Egger als Gestalterin der Zeitschrift übernommen hat. Das Grundlayout Clemens Schedlers, das seit 2005 unverändert geblieben ist, sowie der sorgfältige Satz haben bis heute großen Anteil am guten Ruf, den die Zeitschrift bei Lesenden und Schreibenden im gesamten deutschsprachigen Raum genießt.
Wir bedanken uns bei allen Beiteiligten für ihre Mitwirkung an diesem Projekt. Besonders natürlich bei den Autor_innen und Künstler_innen für ihre inhaltlichen und bei allen Abonnent_innen (insgesamt wären es in all den Jahren etwa 800) für ihre finanziellen Beiträge. Ohne Euch hätte es diese Zeitschrift nie gegeben.
Wolfgang Mörth
miromente 50 – Februar 2018
SARAH RINDERER
Satzzeichnungen
WOLFGANG MÖRTH
Hacklers Ankunft 2.0
KURT BRACHARZ
Vorlass, Nachlass, Ablass
ULRICH GABRIEL
unseglich
DANIELA EGGER
Demenzistan oder die innere Landkarte
eines unbekannten Landes
Leseprobe:
DEMENZISTAN
Daniela Egger
Transferzonen
Als Kind hatte sie es geliebt, in den Schlaf zu gleiten, während die Erwachsenen ihre Gespräche führten. Auch jetzt sank sie in einen Schlaf, manchmal sogar während jemand zu ihr sprach, und sie wusste, dass sie kein kleines Kind mehr war und dass man als Erwachsene nicht einfach einschlafen durfte. Schon gar nicht während eines Gesprächs. Aber es ging nicht anders. Sie sank in eine andere Welt, und die Stimme ihrer Tochter verblasste zu einem Hintergrundgeräusch. Manchmal schlief sie dabei ein, manchmal aber führte der Tunnel zu einem anderen Ausgang, und Anne war geübt darin, sich dem hinzugeben. Das Wort war ein Schlüssel, sie nahm es sich noch einmal vor. Hinzugeben. Hingabe war der Wegweiser, den sie gesucht hatte, sich hinzugeben, jetzt war es ihr eingefallen. Sie erinnerte sich daran, dass sie zu Beginn festgehalten hatte, dass sie versucht hatte, ihren Namen mitzunehmen, die Adresse, eben alles was in einem Pass so stand. Dem Festhalten folgte immer ein Zurückweichen, es gelang ihr nicht, etwas mit hinüber zu retten, sie ging barfuß über die Grenzen ihrer Welt.
Reisen sind eigenwillige Wesen. Sie sind ein wenig besessen von Form und Inhalt, und dabei keineswegs flexibel. Sie selbst sind launisch und wandelbar, aber von ihren Reisenden verlangen sie vollkommenen Gehorsam und eine unerschöpfliche Geduld. Die Menschen, die sich auf eine Reise einlassen, sind sich dessen meist überhaupt nicht bewusst. Sie machen Pläne, wägen ab und verlassen sich auf Bilder, auf nichts als eine Vorstellung, die in der Zukunft Wirklichkeit werden soll. Etwas Imaginäres, dem zu folgen sie sich entschieden haben. Man steigt so unbedarft in einen Zug, oder in ein Flugzeug, man hat dieses Bild vor Augen, hat sich Pläne zurechtgelegt. Und dann bemerkt man, dass die Reise unbequem zu werden beginnt, Mitreisende setzen sich viel zu nahe, sprechen zu laut, meistens in ein Mobiltelefon, beginnen ein Gespräch oder ignorieren die eigene Gesprächsanknüpfung, Verzögerungen geschehen, Umwege tun sich auf, manchmal erscheinen Hindernisse, die unerwartete Improvisationen notwendig machen. Zollbeamte schütteln den Kopf und legen die Stirn in Falten, an der Stelle an der sie eigentlich freundlich lächelnd hätten winken sollen. Der Pass im Scanner stand nicht in den imaginierten Reiseplänen, ebenso wenig wie der verschollene Koffer, der gestrichene Flug oder die Bombendrohung im Flughafengebäude. Jede Reise verlangt von ihren Protagonisten höchste Beweglichkeit und Langmut. Reisen besteht vorwiegend aus Warten. Man glaubt immer, man würde sich in Bewegung setzen, wenn man auf Reisen geht, aber das ist eine weit verbreitete Täuschung. Man tut nichts dergleichen, man sitzt und wartet, bis man endlich ein- oder aussteigen darf. Das hat Anne gelernt.
Anne saß und wartete schon eine ganze Weile, immer mit dem Gefühl, bald etwas Bedeutendes zu erleben. Sie war nur eben noch nicht angekommen.
An allen möglichen Orten der Welt war sie schon gewesen, früher, und genau dort, wo sie nichts verloren hatte, dort hatte sie sich am wohlsten gefühlt. Reisen war ihr immer leicht gefallen, weil sie sich nur wenige Vorstellungen machte, und auch weil sie sehr leicht zu begeistern war.
Jetzt aber begann ein neues Kapitel in der Geschichte ihrer Reisen. Das Warten nahm kein Ende. Manchmal blickte sie um sich, auf der Suche nach ihrem Koffer, ihrer Tasche. Dann bemerkte sie, dass sie auf einem Sofa saß, dass der Bahnsteig weit entfernt war, dass sie den Zug vermutlich verpassen würde, wenn sie weiterhin sitzen bliebe. Ihre hektischen Versuche, einen Koffer zu finden und Kleider zu packen waren bisher immer unterbrochen worden, meist von Lydia, die ihr erklärte, dass es jetzt nicht an der Zeit sei zu verreisen. Es dauerte lange bis Anne begriff, dass Lydia von ihren Reisen gar nichts bemerkte. Während Anne etwa an einem langen Strand an der ostafrikanischen Küste spazierte, gefolgt von einem kleinen, dunkelhäutigen Mann mit Pfeil und Bogen, verlangte Lydia, dass sie sich die Zähne putzte. Annes Unvermögen, ihrer Tochter zu erklären, weshalb der Mann ihr im Abstand von 20 Metern folgte, und wer ihn dazu beauftragt hatte, sie zu beschützen, blieb in einer sinnlosen Diskussion über die Notwendigkeit des Zähneputzens stecken. Solche und ähnliche Missverständnisse hatten zu unschönen Szenen geführt. Anne hatte sich bald aufs Schweigen verlegt, wenn jemand etwas Absurdes von ihr verlangte.
Sie ahnte, dass sie an diesem Kapitel scheitern würde, es war keine der Aufgaben, die man meistern konnte. Sie schien zu wachsen, mit jedem Schritt, den Anne auf sie zu machte. Diese Aufgabe würde sie am Ende vernichten, daran bestand kein Zweifel. Anne tat ihre Schritte, weil sie keine andere Wahl hatte, und sie tat sie mit weichen Knien.
Das Wort „Hingabe“ spannte sich wie ein Bogen über ihre Aufgabe, das wusste sie jetzt. Anne brauchte Zeit und Geduld, um dem Wort etwas Brauchbares zu entnehmen. Zunächst, weil ihr das Denken so widerspenstig auswich, schon seit einigen Wochen, oder waren es Monate? Jahre, behauptete ihre Tochter und rollte dabei mit den Augen. Das Wort blieb und auch das Gefühl, dass sie mit dem Wort etwas zu arbeiten hatte, aber was war es, und weshalb gab es nichts zu sehen? Und nichts zu tun? Sollte sie etwa nichts tun?
Allein ein solcher Gedanke konnte den Start zu einer weiteren unwillkürlichen Reise bedeuten, das Wort nahm sie an der Hand und führte sie über eine Grenze in dieses unbekannte Land mit den wechselnden Erscheinungen. Wohin sie blickte, sah sie Beispiele für das Wort Hingabe, lebendige Beispiele, sie wuchsen aus der Erde, standen auf der Weide, flogen am Himmel oder kauerten in einem Nest. Sie kamen, wie es ihnen beliebte, sie schienen sich nicht an Naturgesetze halten zu müssen. Sie waren da, und im nächsten Moment wieder verschwunden.
„Mama, komm jetzt endlich“, sagte eine vertraute Stimme immer eindringlicher. Die Stimme befand sich nicht in diesem Land, sie rief über die Grenze hinweg und versuchte Annes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber Anne hatte keine Zeit zu antworten, sie war gefangen im Anblick ihres kleinen Beagles, als er noch ein Welpe war. Sie hatte ihn bekommen, weil er in der Nähe ihres Hauses gefunden worden war, man brachte ihn zu ihrer Mutter. Der Welpe schmiegte sich zitternd in ihre Arme und Anne war glücklich. Die Stimme verschwand.
Annes Glück war wieder da. Sie war ein Kind und rannte mit ihrem kleinen Hund über eine Wiese. Sie konnte den warmen Geruch von Frühling und Sonne riechen. Anne fühlte sich wie an einem sicheren Ort. Es erfüllte sie mit einer Zuversicht, die sie nicht erklären konnte. Weit draußen am Rande ihres Bewusstseins wurde die Stimme wieder ungeduldiger. Es war Lydias Stimme. Anne atmete tief, die Stimme kam näher, und damit verblasste das Bild der Wiese, der kleine Hund verschwand. Wie hieß er nur...
„Was machst du denn?“
„Wie heißt mein Hund?“
„Wie bitte?“
„Der kleine Hund, wie heißt er noch?“
„Mama, wir haben keinen Hund! Wovon redest du?“
und: „Jetzt schau doch, was passiert ist...“
Anne war über den Rand gefallen, sie saß wieder an ihrem Esszimmertisch, der Geruch der Wiese verflüchtigte sich. Dafür roch es nach Kaffee. Das Land hatte sie über diese unsichtbare Grenze geschubst, Rock und ein Bein waren vom Kaffee getränkt.