miromente 56

Die Nummer 56 ist eine reine Männernummer, was erstens nicht beabsichtigt war und zweitens nicht heißt, dass keine Frauen darin vorkommen. Im Gegenteil, sie spielen eine wesentliche Rolle. Zum Beispiel die Exfrau des Protagonisten in Norbert Müllers Erzählung Nachtkommode, Besitzerin jenes SUV, mit dem er vorhat, in einen Baum zu fahren. Oder Inge Haferkamp in Inge Haferkamps zyankalihaltige Entwicklerlösung, die von ihrem Exmann, dem Kriminalkommissar, gefragt wird, auf welche Art sie ihn am ehesten umbringen würde. Oder die Ehefrauen der beiden Schriftsteller in Egyd Gstättners Die Handschriftsteller, die erfahren, dass die zu erwartenden winzigen Pensionszahlungen ihrer Männer nur dann von der „Literarischen Verwertungsgesellschaft“ auf die Mindestpension aufgestockt werden, wenn sie sich von ihnen scheiden lassen. Wobei es sich dabei natürlich um eine rein zufällige Häufung von Situationen handelt, in denen direkt oder indirekt von Scheidung die Rede ist. Obwohl… bei näherer Betrachtung geht es auch in Kurt Bracharz‘ Essay Zweite Meinung gesucht um eine gescheiterte Beziehung, nämlich um die zwischen Literatur und Literaturkritik. Und so gesehen wäre es vielleicht sogar interessant, auch in den Bildern Harald Gmeiners nach diesbezüglichen Hinweisen zu suchen...

Da gehörte es von Beginn an zu den editorischen Grundsätzen der Herausgeber, keine Themennummern zu machen, und dann passiert so etwas.

Wolfgang Mörth

miromente 56 – Juli 2019


NORBERT MÜLLER
Die Nachtkommode

HARALD GMEINER
allegrien

EGYD GSTÄTTNER
Die Handschriftsteller

WOLFGANG MÖRTH
Inge Haferkamps zyankalihaltige
Entwicklerlösung

KURT BRACHARZ
Zweite Meinung gesucht

 

Leseprobe:

Zweite Meinung gesucht
Kurt Bracharz

Vor einiger Zeit spielte ich mit dem Gedanken an ein Buch mit Essays über phantastische Literatur. Ich dachte an Einzeldarstellungen von weniger bekannten Werken, also ohne die üblichen Verdächtigen.

Ich lieh mir von einem Freund Julien Gracqs „Auf Schloss Argol“ aus, die Übersetzung von Eva-Maria Thimme in der Edition Sirene, Berlin 1987. Das Original „Au Château d’Argol“ ist 1938 in Paris erschienen. Die Lektüre war zunehmend befremdlich, das Fazit aber doch einfach: das Buch ist ein ausgemachter Schmarren, in pseudo-surrealistischer Weise aus Versatzstücken des englischen Schauerromans sinn- und lieblos zusammengeklittert, ein Doppelgängermotiv, verbunden mit Folterung, Selbstmord und Leichenschändung einer Frau, deren Name schon vor ihrer Anreise zum Schloss Argol vom Erzähler in einen Grabstein eingekratzt wird. Das literarische Debut des Gymnasiallehrers Gracq wurde von Gallimard abgelehnt und dann mit einem „erklärenden“ Vorwort von Gracq im Verlag José Corti veröffentlicht. Ich hätte gerne eine zweite Meinung zu dem mir im schlechten Sinne absurd erscheinenden Buch gelesen, aber bei „Auf Schloss Argol“ versagt auch das allwissende Internet.

Immer noch zum selben Projekt – das ich danach aufgegeben habe – kaufte ich mir Julien Gracqs „Das Abendreich“, deutsch von Dieter Hornig im Literaturverlag Droschl 2017. Das Original „Les Terres de Couchant“ ist erst 2014 in den Editions Corti erschienen, also 76 Jahre nach dem schrecklichen Schloss. Diesmal war ich durch einen begeisterten Artikel in „Die Presse“ aufmerksam geworden, der ungefähr auf das Lob auf dem Buchumschlag hinauslief: „Ein traumhafter, halluzinatorischer Roman aus dem Nachlass von Julien Gracq“. Nach zwanzig Seiten rief ich aus: Einschlafes Bruder! Es geschah, was sonst nur bei Kriminalromanen und nie bei Werken der „Literatur“ vorkommt: ich schaffte es nicht, das Buch zu Ende zu lesen. Im Gegensatz zum Erstling besteht es aus nicht enden wollendem Schwulst überaus adjektivreicher Beschreibungen von Personen, Landschaften, Handlungen. Der Übersetzer sieht im Nachwort die Sache natürlich ganz anders, er attestiert Gracq eine Prosa, „die wesentlich von der französischen Poesie des neunzehnten Jahrhunderts geprägt ist, beide Effekte gleichzeitig auf die Spitze treibt und dadurch unweigerlich zum Prosagedicht tendiert.“ Hornig hat auch eine Erklärung, warum mir das Buch nichts sagt: „Man braucht nur Menschen, die weder Literaturkenner noch Literaturliebhaber sind, eine Seite von Gracq zu lesen geben, und schon sind sie gefesselt, sie lesen und lesen, und verklärtes Lächeln huscht über ihr Gesicht, sie blicken auf und sind gleichsam überwältigt von der Schönheit oder der Präzision oder von beiden.“ Ich hab’s versucht, es gibt genug Leute, die weder Literaturkenner noch Literaturliebhaber sind, keiner von ihnen hat mit verklärtem Lächeln aufgeblickt. Über Gracqs Hauptwerke kann man jede Menge Literatur finden, allerdings nur Lob, kaum eine Kritik. Der erste Ablehner des Prix Goncourt 1951 scheint sakrosankt zu sein wie jeder, der in der Bibliothèque de Pléiade vertreten ist.

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