miromente 63

Ausgezeichnet geschrieben gemalt 

Diese Nummer enthält die preisgekrönten Texte des heurigen, mittlerweile nur mehr biennal vergebenen, dafür aber höher dotierten Vorarlberg Literaturpreises. Da es sich dabei um ein anonymisiertes Auswahlverfahren handelt, stehen die Chancen jeweils gut, literarische Begabungen kennen zu lernen, die sich bisher eher im Verborgenen entwickelt haben.

So geschehen auch heuer. Mit Petra Pellini wurde eine Autorin mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, die bisher nicht regelmäßig mit Veröffentlichungen in Erscheinung getreten ist. Die Protagonist*innen ihrer Geschichte sind ein demenzkranker ehemaliger Bademeister, seine junge Betreuerin und eine 24-Stunden-Hilfe. Dass Pellini weiß, wovon sie schreibt, ist spürbar und auch belegbar, denn ihrer Biografie ist zu entnehmen, dass sie eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert hat und seit vielen Jahren mit Demenzkranken arbeitet.

Im Fall von Nils Nußbaumer ist der Gewinn eines der Arbeitsstipendien eine Bestätigung seines Talents, denn er erhält diese Auszeichnung nach 2019 bereits zum zweiten Mal. In seinem Text wird das Leben einer in einem Bregenzerwälder Dorf lebenden Familie aus der Perspektive eines Kindes geschildert.

Ein weiteres Arbeitsstipendium ging an Ingrid Kloser für die Geschichte einer Frau und zweier Männer, deren Freundschaft und Liebe durch Geschehnisse in der Vergangenheit in Gefahr zu geraten drohen. Auch bei diesem Text handelt sich, so wie bei den beiden anderen, um den Ausschnitt aus einem in Arbeit befindlichen Roman.

Sinnfällig erschien es uns, die Bildstrecke in dieser Nummer dem in Wien lebenden aktuellen Träger des Vorarlberger Kunstpreises Drago Persic zur Verfügung zu stellen. Erwähnt sei, dass seine hier abgebildeten „Flags und Curtains“ tatsächlich in Schwarzweiß gemalt sind, und zwar Öl auf Leinwand bzw. Papier, umgesetzt mit größter technischer Akribie. Diese und andere Arbeiten sind derzeit und noch bis 12. Juni in der Galerie allerart in der Bludenzer Remise zu sehen.  

Wir wünschen eine anregende Betrachtung und Lektüre.

Wolfgang Mörth

miromente 63 – Mai 2021

 

DRAGO PERSIC
Flags and Curtains

PETRA PELLINI
Am Puls der Zeit

NILS NUSSBAUMER
Jeden Sonntag

INGRID MARIA KLOSER
Dieses Sehnen

 

Leseprobe:

Am Puls der Zeit 

von Petra Pellini

Ich werde vor ein Auto laufen. Die Menschen werden sich um mich scharen und mit weit aufgerissenen Augen auf meine blutenden Wunden starren. Wenn mein linker Arm gut zu liegen kommt, werden sie den Säbelzahntiger auf meinem Unterarm sehen. Die Welt wird still stehen und endlich wird jemand es aussprechen: „Das Mädchen braucht Hilfe!“

Es gibt zwei Menschen, die mich von der Sache mit dem Auto abhalten. Kevin und Hubert. Kevin wohnt um die Ecke, ist voll intelligent und Hubert wohnt im Erdgeschoss und ist voll dement. Zweiundvierzig Jahre war Hubert Bademeister im städtischen Bad. Kevin kenne ich, seit ich ihn am Schulweg mitnehmen musste. Ich erinnere mich an den gelben Flaum auf seinem Kopf. Haare konnte man das nicht nennen. Auf jeden Fall war Kevin mein Handgepäck, weil das eben so war, mit seiner alleinerziehenden Mutter und seinem gefährlichen Schulweg. Kevin war mein Klotz am Bein. Bis er neun war, gingen wir stumm nebeneinander her. Kopfnicken zur Begrüßung. Kopfnicken zum Abschied. Erst, als meine Eltern sich trennten, habe ich begonnen ihn zu mögen. Er war der Einzige, der wusste, was bei mir zu Hause los war. Kevin kennt mich. Hubert jedoch kennt meine Geheimnisse. Bei ihm sind sie sicher, denke ich und bekomme einen Lachanfall.

Kevin und ich sehen uns täglich. Hubert sehe ich Montag, Mittwoch und Freitag in seiner gewohnten Umgebung, während seine 24-Stunden-Hilfe Luft schnappt. Gäbe es eine Leistungsbeurteilung für Demente, wäre Hubert Klassenbester. Er hat vergessen, wie man Besteck benutzt und dass man Essen isst, wenn es einem vor die Nase gestellt wird. Letzten Mittwoch habe ich ihm seine Haarbürste in die Hand gedrückt.
     „Mach mal selber, Hubert“, habe ich gesagt. Und er?
     Er wollte die Bürste dem Mann im Badezimmerspiegel geben. Das mit den Spiegeln, darüber sollte man mal nachdenken. Wenn wir es schon so genau nehmen, mit der Gestaltung seiner Umgebung, dann weg mit den Spiegeln. Kein Mensch braucht fünf Spiegel in einer 60 m² Wohnung. Letzten Freitag ist er über sein Spiegelbild erschrocken und die Woche zuvor hat er mit sich selbst zu streiten begonnen. Er wollte den Mann im Spiegel aus der Wohnung werfen. Ich kann das verstehen. Das mit dem Spiegel ist mir auch oft zu viel.

Zwei Jahre ist es her, dass mich seine Tochter abgepasst hat, unten bei den Briefkästen. Die ganze Zeit über musste ich an diese Nachtfalter mit den hauchdünnen Flügeln denken, so zerbrechlich hatte sie ausgesehen. Ohne Betreuung sei ihr Vater völlig aufgeschmissen, hatte sie mir erklärt. Da haben wir etwas gemeinsam, denke ich und stecke den Schlüssel ins Schloss.

Da sitzt er. Die Stimme des Radiosprechers steht zwischen uns. Ich ziehe den Stecker. Aus. Stille. Jetzt hat er mich entdeckt. Ich reiche ihm die Hand. Meine heiß. Seine kalt. Die Spiele sind eröffnet. Jedes Mal frage ich mich, ob er das Mädchen mit den langen, brünetten Haaren, erkennt. Er nennt mich du. Ich glaube nicht, dass er mich als fremd einstuft, sonst müsste er die Polizei rufen, wenn ich plötzlich in seiner Küche stehe. Mit der Polizei kommt er mir nur, wenn er seine Sparbücher sucht.
     „Ist mein neues Hobby, mit Hubert Sparbücher suchen“, sage ich zu seiner Tochter am Telefon.

Die 24-Stunden-Hilfe geht, ohne Gruß, schnell raus. Ich setze mich ihm gegenüber und überlege, ob zwölf Euro in der Stunde leicht oder schwer verdientes Geld sind. Wir spielen Memory, während seine Augen zufallen. Ich übernehme seinen Part, spiele gegen mich und sehe zu, wie er gewinnt.

     „Hunger, Hubert?“, frage ich, entferne die Rinde vom Weißbrot und streiche Leberstreichwurst darauf. Das mit der Streichwurst kostet mich richtig Überwindung. Ich schneide das Brot und stecke ihm Stück für Stück in den Mund. Er kaut. Das ist die halbe Miete.           „Und runterspülen“, sage ich und halte ein Glas Johannisbeersaft an seine aufgesprungenen Lippen.

Er nimmt einen winzigen Schluck und spuckt den Saft zurück ins Glas: „Willst du mich vergiften?“
     „Ja, genau“, sage ich. Immer, wenn ich seiner Vergiftungstheorie zustimme, rücken seine Augenbrauen eng aneinander. Ich verwerfe den Gedanken mit der geblumten Serviette gegen seinen Mund zu tupfen. Jede Veränderung kann Ärger bringen.

Ist Hubert mit nichts aufzumuntern, ziehe ich drei Brockhausbücher aus dem Regal, staple sie übereinander, steige hinauf, hole tief Luft, halte mir die Nase zu und springe vom Beckenrand. Ich schwimme durchs Wohnzimmer. Brustschwimmen. Rückenschwimmen. Kraulen. Delphin. Das ganze Repertoire. Hubert lächelt mich mitleidig an. Lässt ihn der dritte Sprung vom Beckenrand unbeeindruckt, suche ich auf Youtube nach Filmmaterial über Freibäder. Hilft alles nichts, ziehen wir uns Rudi Carrell rein. Wann wird’s mal wieder richtig Sommer. 1975. Rudi sitzt in der Mitte eines runden Schwimmbeckens. Acht Frauen in roten Badeanzügen schwimmen um den Rudi. Exakt da liegt meine Schmerzgrenze.
     „Jetzt bin ich dran“, sage ich und gebe Julian Bam, Poolsong ein.