miromente 65
Die aktuelle Nummer erweitert und ergänzt die Ausstellung »Die Veränderung ereignete sich mit der Heftigkeit des Übergangs vom Tag zur Nacht« in der Dornbirner Galerie Quadrart im Seitenraum. Die von Kirsten Helfrich und Sarah Rinderer eingeladenen Künstler:innen, die alle im erweiterten Sinne mit Sprache arbeiten, beschäftigen sich in ihren Beiträgen für die miromente mit existenziellen, persönlichen, poetischen, konzeptuellen Übergangssituationen – insbesondere aber mit jener zwischen Literatur und Bildender Kunst.
Nadine Kegele thematisiert die Grenzerfahrung ihrer neuen Mutterrolle, während Muhammet Ali Bas visuell mit der Herkunft, der häufig ›verzerrten‹ öffentlichen Wahrnehmung seines Vornamens spielt. Kirsten Helfrich hinterfragt den Wahrheitsgehalt von Texten, die ihr im Alltag des letzten Jahres begegnet sind, und tOmi Scheiderbauer gibt Einblicke in seinen Arbeitsprozess am autobiografischen Buch Meine Freund:innen, der Tumor + die Kunst. Der Beitrag Rote Liste zu gefährdeten und ausgestorbenen Tierarten von Viktoria Tremmel und Thomas Raab verbindet Bilder und Epitaphen, der Auszug aus der Künstlerpublikation AUTOPORTRAIT von Gerhard Klocker Text und Fotografie. Werden die abgedruckten Haikus von Mathias Müller im Rahmen der Finissage als Klang-Performance hörbar, ist in der Ausstellung das hier abgedruckte Semaphore poem als Video-Dialog auf zeitliche Distanz zwischen Sarah Rinderer und der verstorbenen Dichterin | Künstlerin Hannah Weiner zu sehen. Lena Seeberger beschließt die Nummer mit einem Vorabdruck aus ihrem in Kooperation mit literatur:vorarlberg netzwerk entstandenen Daumenkino, mit dem Übergang von der – beziehungsweise durch die – Buchseite in den Raum.
Kirsten Helfrich | Sarah Rinderer
miromente 65 – September 2021
NADINE KEGELE
Milch
MUHAMMET ALI BAS
mirroring life
KIRSTEN HELFRICH
Im Strudel
TOMI SCHEIDERBAUER
I AM, 2020
VIKTORIA TREMMEL
THOMAS RAAB
Rote Liste
GERHARD KLOCKER
Der rote Käfer
MATHIAS MÜLLER
zungen kreuzungen
SARAH RINDERER
Semaphore poem
LENA SEEBERGER
Reading a book
Leseprobe:
Der rote Käfer ehemals weiß
von Gerhard Klocker
Kurz vor Weihnachten in Olympia, London. Fünfter Stock, direkt unterm geteerten Flachdach ohne Isolierung. Im Sommer so heiß, dass jede physische oder geistige Aktion unmöglich wird. Hab da ganze fünf Wochen lang ganztägig in Unterhosen bei 48 Grad eine komplette schottische Snooker-Championship-Saison verfolgt auf meinem Mini-Schwarzweißfernseher, wo der Empfang so schlecht war, dass immer ein Ghostbild so vier Zentimeter neben dem richtigen Bild mitgelaufen ist. Also immer mindestens zwei parallele Queues und zwei parallellaufende Kugeln. Ziemlich schwierig, den Überblick zu behalten, vor allem in Schwarzweiß...
Bin da irgendwann mal mit meinem roten Käfer rübergekommen, weiß nicht mehr wie, aber anscheinend bin ich angekommen. Jetzt wollte ich damit wieder nach V fahren – für Weihnachten halt.
Zum Käfer wär nur noch zu sagen, dass er keinen Boden mehr hatte hinter dem Fahrersitz. Wer also hinten zu sitzen kam, musste die Füße links auf den Heizungskanal und rechts auf die Mittelkonsole aufsetzen. Nach unten konnte man in der Größe meines Fernsehers die Straße vorbeiflitzen sehen, wenn man die Gummimatte wegnahm. Links und rechts vom Fernseher ist richtiges Gras gewachsen, nicht nur Moos, sondern richtiges Gras.
Ah ja, und die Heizung beim Käfer war »abgeschaltet«. Die war eigentlich immer »abgeschaltet«, weil beim Käfer gibt es so einen Stahlseilzug, vom Fahrersitz aus zu bedienen, der nach hinten zum Auspufftopf verläuft, mit dem man eine Klappe betätigen kann, die direkt vom Auspufftopf heiße Luft durch die Heizungsschächte links und rechts in den Schwellen durchlässt – oder eben nicht.
Wenn der Auspufftopf durchgerostet ist, kommen dann auch die Auspuffabgase direkt herein, nicht nur die Wärme. Diese Stahlseilzüge gab es jedoch nicht mehr. Man konnte aber die Heizung trotzdem ein- und ausschalten, indem man die Klappen direkt beim Auspuff mit einer Zange auf die gewünschte Position brachte und dann mit Bindedraht fixierte. Ein genaues Feintuning der Temperatur war zwar eher schwierig, aber immerhin »ein« oder »aus«.
»Ein« bedeutete allerdings volle Kanne – bei Minustemperaturen draußen – Saunaverhältnisse drinnen, zumindest da, wo die Heizungslöcher waren, beispielsweise links vom Kupplungsfuß, der also krebsrot vor Hitze war, und trotzdem eine vereiste Windschutzscheibe, von innen.
Heizung also von März bis November deaktiviert. In dem Fall eben auch noch am 23. Dezember, weil im atlantischen Londonklima wird’s eh nie richtig kalt und außerdem, hab ich mir gedacht, ist kalt eh besser, weil dann schlaf ich wenigstens nicht ein während der Fahrt. Sind ja immerhin über zehn Stunden bis daheim.
Der Plan war – am Abend von London bis Dover – die letzte Fähre nachts um elf nach Calais – dann das Stückchen rauf nach Holland – und runterbrettern über die deutsche Autobahn, was das Zeug hält.
So 110 halt.
Also fahr ich so um acht am Abend weg. Schneerieseln in London, also lange Unterhosen, warme Socken, Doc Martens, Pufferjacket, Kappa, Händscha, Schal
und los gehts!
Wenn’s beim Käfer aber nun draußen so zwei bis drei Grad minus hat und dazu Schneeregen, siehst du nix. In der Nacht dop- pelt nix. Innentemperatur durch Fahrt- wind fällt so um die –12 Grad, alle Scheiben komplett von innen und von außen vereist.
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