miromente 68

In dieser Ausgabe präsentieren wir Ihnen den Festvortrag, den der Vorarlberger Architekt Roland Gnaiger anlässlich der Eröffnung der diesjährigen Emsiana gehalten hat. Das Thema des Hohenemser Kulturfestes lautete „Nachbarschaft“ und Roland Gnaiger reagierte darauf mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für die bewusste Gestaltung des „halbprivaten“ Raumes, die seiner Ansicht nach von zentraler Bedeutung für die Entwicklung positiver nachbarschaftlicher Beziehungen ist.

Umrahmt ist dieser Text von zwei längeren Erzählungen. Einmal „Die Lebenden und die…“ der steirischen Autorin Irene Diwiak, in der eine ehemalige Volksschuldirektorin sich auf dem Weg zum Friedhof auf nüchterne und schonungslose Art Gedanken über ihr eigenes und das Leben ihrer ungleichen Schwester macht. Zum anderen steuert der Herausgeber die Geschichte „Aliens in Istanbul“ bei, die unter anderem von der nächtlichen Begegnung mit einem literaturbegeisterten Hund und von zwei verschiedenen Rezepten für Kuttelsuppe handelt.

Die Bilder stammen von der jungen Feldkircher Fotografin Theresa Christon und zeigen eine Auswahl von Bauwerken, reduziert auf die ästhetische Wirkung von Material und Struktur ihrer Fassaden-Oberflächen. Die Nutzung der Gebäude ist nebensächlich. Nicht Ortskundige können ihren ungefähren Standort über die Koordinaten im Titel ermitteln.

Wir wünschen anregende Erkenntnisse bei der Lektüre und Betrachtung dieser Nummer.

Wolfgang Mörth

miromente 68 – Juli 2022

 

 

WOLFGANG MÖRTH
Aliens in Instanbul

THERESA CHRISTON
47.5008 N | 9.7423 E

ROLAND GNAIGER
Halb privat

IRENE DIWIAK
Die Lebenden und die...

 

 

Leseprobe:

Die Lebenden und die...

von Irene Diwiak

Das Wichtigste ist das Aufstehen in der Früh. Das hat Paula schon gelernt in den Jahren ihrer Pension: Wenn du da nicht aufstehst, kannst du gleich liegen bleiben. Und nach dem Aufstehen das zweitwichtigste ist das Wasser, weil was wie Altersdemenz aussieht, ist oft nur eine Dehydration. Zwei Gläser Lauwarmes auf leeren Magen, dann etwas aus Vollkorn und nach Hildegard von Bingen, und danach kommt es aufs Wetter drauf an. Zu Hause bleiben bei Sonnenschein ist nämlich wie im Bett bleiben, genauso schlimm, auch das hat Paula schon gelernt. Sich bloß nicht einlullen lassen von der heimeligen Düsternis der eigenen vier Wände, sie ist nicht Lehrerin gewesen zwanzig Jahre und Direktorin zwanzig weitere, um dann keine Disziplin aufzubringen, wenn’s drauf ankommt. Seit der künstlichen Hüfte kommt’s drauf an, die braucht mehr Auslauf als ein junger Hund, hat die Physiotherapeutin gesagt. Paula isst den letzten Löffel vom geschmacksneutralen Dinkelbrei und blickt aus dem Fenster: Die Sonne steht so selbstherrlich am strahlend blauen Himmel wie seit Wochen nicht mehr. Gerade wenn man sich Hochnebel herbeiwünscht, Paula seufzt und reißt sich zusammen. Fast fünfzehn Grad heute, sagt die Sprecherin im Radio mit leiser Stimme und ganz nah am Mikrofon, als wollte sie es einem ins Ohr flüstern, das könnte wieder einmal ein heißestes Jahr aller Zeiten werden, jetzt im Endspurt der letzten Tage noch, Paula schaltet den Radio aus. Sie zieht trotzdem die dicke Jacke über und die Handschuhe auch, Winter bleibt Winter. Bevor sie die Wohnungstür öffnet, stockt sie dann aber doch noch einmal, und zwar wegen der Stöcke. Die Physiotherapeutin hat ihr die Stöcke empfohlen, zur Entlastung der Hüfte und überhaupt zur Entlastung, aber Paula findet, dass sie aussieht damit wie eine verirrte Schifahrerin. Da wird sie am Ende doch noch für dement gehalten und ist dabei nicht einmal dehydriert. Kurzer- hand beschließt Paula deswegen, heute auf den Friedhof
zu gehen. Mit Schistöcken auf den Friedhof, das sieht nicht nur komisch aus, das ist eine reine Pietätlosigkeit, das würde sogar die Physiotherapeutin einsehen. Paula grinst über diesen Einfall, wie ihre Schüler früher gegrinst haben bei der Schularbeit, wenn sie dachten, eine nicht aufzudeckende Schummelei begangen zu haben, nur dieser Gesichtsausdruck hat sie letztendlich immer verraten. Aber die Physiotherapeutin ist ja nicht hier.
Die Straßenbahn ist nicht sehr voll um diese Zeit und fast nur alte Frauen.
Paula stellt ihre Handtasche auf den Sitzplatz neben sich und blickt aus dem Fenster, betrachtet erst die Einkaufsstraßen und Wohnblöcke und später die leeren Schaufenster aufgelassener Geschäftslokale, als würde die Stadt schon ein wenig absterben so nach außen hin, bis sie irgendwann endgültig eingeht in die verblichen-grauen Friedhofsmauern. Paula weiß natürlich, dass das mit der Hygiene zu tun hat, mit Seuchen und Grundwasserverschmutzung, früher hat man der Gesundheit zuliebe die Leichen soweit rausschaffen müssen und ist dann einfach geblieben dabei. Bis vor kurzem war der Friedhof sogar Endstation, jetzt ist er es nicht mehr, trotzdem steigen alle Passagiere hier aus, wie überaus passend, denkt Paula. Sie ist die letzte, die aus dem hohen Wagen klettert, müssen die anderen Weiber ja nicht sehen, wieviel Mühe ihr das bereitet. Die anderen Weiber, oder wie Paula sie auch nennt im Kopf: die Witwen. Dabei sind sie in Wahrheit wahrscheinlich nur Spaziergängerinnen wie sie selbst, keine von ihnen in schwarz oder verheult, manche sogar lustig miteinander schwatzend wie eine Damenrunde auf dem Weg ins Café. Und die wiederum halten jetzt vielleicht Paula für eine Witwe, wie sie da so aus der Straßenbahn strauchelt, das Hinken kann ja durchaus auch mehr sein als nur eine Hüfte, kann auch auf einen schweren Gang hinweisen. Paula ärgert das, Witwe ist kein Schimpfwort, natürlich nicht, aber trotzdem soll sie für keine gehalten werden. Sie ist unabhängig hier und ganz aus freiem Willen, oder zumindest fast, wegen der Physiotherapeutin nur und nicht wegen einem Ehemann, beinahe wünscht sie sich die lächerlichen Schistöcke her zur Demonstration. Dass in der Nähe von Toten sich alles immer so übertrieben bedeutungsvoll anfühlen muss, und am bedeutungsvollsten das eigene Leben. Als würden alle neidisch hinschielen darauf, dabei hat gar keine geschaut von den Witwen, die leben ja alle selbst noch und sehen nichts Besonderes darin. Die streben eilig durchs Friedhofstor ihren Verstorbenen entgegen, die Schwatzenden immer noch schwatzend, die Schweigenden schweigend, und keine nimmt Notiz von Paula, die hinterherhinkt, und niemandem entgegen. Und trotzdem muss ihr ausgerechnet in diesem Moment Lola wieder einfallen.

...