miromente 71
Das Kapitel Neulich am Sonntag passte, obwohl es in sich stimmig und gut war, in den schließlich veröffentlichten und 2022 mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichneten Roman Mon Chéri und unsere demolierten Seelen nicht mehr hinein. Um Ihnen dieses Fragment trotzdem zugänglich zu machen, haben wir Verena Rossbacher gebeten, es uns zum Abdruck zu überlassen. Der Wiener Autor Paul Ferstl zeigt uns in seinem Essay Sammlung & Zerstreuung, wie abenteuerlich die Arbeit eines Literaturwissenschaftlers sein kann, wenn er sich auf die Suche nach einer auf der ganzen Welt verstreuten Bibliothek macht, in diesem Fall jener des Dichters Ludwig Tieck. Ein Auszug aus dem noch unveröffentlichten Roman In diesem Leben von Péter Stefanovicz zählte zu den besten Texten, die 2022 zum Harder Literaturpreis eingesendet wurden und hätte bereits in der letzten miromente-Ausgabe enthalten sein sollen. Um dieses Versäumnis wieder gut zu machen, präsentieren wir in dieser Nummer, wenn auch nicht denselben, so doch einen Ausschnitt von derselben Qualität und empfehlen ihn Ihrer ganz besonderen Aufmerksamkeit. Mit ihrer inhaltlich dichten und stilistisch kraftvollen Kurzgeschichte Möwe ist die Schweizer Autorin Andrea Gerster, die mit ihrer Arbeit auch sonst immer wieder in Vorarlberg in Erscheinung tritt, zum ersten Mal in unserer Zeitschrift vertreten, was uns sehr freut. Klara Bleier hat in der miromente 69 ihre ersten Gedichte veröffentlicht und tut es in dieser Nummer mit weiteren Beispielen ihres erstaunlich klaren lyrischen Blickes erneut.
Die bildnerischen Arbeiten gehören zu einer Serie von Zeichnungen, in denen die in Berlin lebende Künstlerin Clara Pistner die ersten Lebensmonate ihrer 2021 geborenen Tochter und ihre eigene Situation als Mutter dokumentierte. Den künstlerischen Prozess beschreibt sie als »eine unglaublich befriedigende, aufschlussreiche Praxis, die mich erfreute, amüsierte, überraschte, erstaunte und bestätigte.« All diese Erfahrungen wünschen wir auch Ihnen beim Lesen und Betrachten dieser Nummer.
Wolfgang Mörth
miromente 71 – März 2023
CLARA PISTNER
mit links zeichnen
weil ich rechts stille
VERENA ROSSBACHER
Neulich am Sonntag
PAUL FERSTL
SAMMLUNG & ZERSTREUUNG
PÉTER STEFANOVICZ
In diesem Leben
KLARA BLEIER
Ich bin Papier
Leseprobe
von Klara Bleier
Ich bin Papier
Das Wetter richtet sich ein
im Haus aus Papier.
Die Fenster sind Papier,
hängen in Fetzen
in ihren Rahmen.
Die Farben fallen
von den Wänden.
Die Wände sind Papier.
Der Boden ist Papier.
Ich trage meine Füße.
Ich bin Papier.
Ich ziehe mich zurück.
Ich entfalte mich.
Ich richte mich ein.