miromente 73

Wir freuen uns, in dieser Ausgabe Bülent Kacans Siegertext des diesjährigen „Hohenemser Literaturpreises“ abdrucken zu dürfen. Der Preis wird seit 2009 alle zwei Jahre für Texte deutschsprachiger Autor*innen nichtdeutscher Erstsprache ausgeschrieben. Bülent Kacan wurde 1975 „als drittes Kind eines Ehepaares, das im Zuge des Anwerbeabkommens mit der Türkei nach Deutschland eingewandert ist“ geboren. In der Jurybegründung heißt es: „Handwerklich virtuos, poetisch und mehrschichtig“ verleiht er dem Entsetzen über den Tod eines geliebten Menschen eine Sprache, „wo sonst Sprachlosigkeit herrscht“. Die Jury bestand in diesem Jahr aus der Schriftstellerin Julya Rabinowich, der Literaturwissenschaftlerin Veronika Schuchter und dem Schweizer Literaturkritiker Stefan Gmünder.
Die Autorinnen Andrea Grill und Anna Ospelt wagten das Experiment, gemeinsam einen Gedichtzyklus zu verfassen, für den sie den Titel „Amseln“ wählten. Dieser Begriff bezeichnet nicht nur eine bekannte Singvogelart, sondern auch eine Tätigkeit, die unter anderem definiert wird als „untersuchen, während man singt“. Wir empfehlen den Leser*innen, es als die Beschreibung eines lyrischen Verfahrens zu verstehen, das in der Lage ist, Gedichten einen ganz besonderen Klang zu verleihen.
Der in Berlin lebende Autor Christian Reimann gibt uns nach seinen Erzählungen „Einzelzimmer“ (Nr. 55) und „Schankwagen“ (Nr. 59) mit „Eckzimmer“ einen weiteren Einblick in die Welt seines Helden Arne, Angestellter in einem Landgasthof, dessen Gedanken dieses Mal kunstvoll verwoben sind mit den Einschätzungen eines Büroangestellten und Privatgelehrten, sowie den Hoffnungen und Ängsten des Werkstattleiters einer Tischlerei.
Die Collagen stammen von der in Dornbirn geborenen und in Augsburg lebenden Künstlerin Susanne Wimmer. Sie sind Teil jener Serie von Plakatsujets, die mit ihren starken Akzenten den medialen Auftritt des in Lustenau ansässigen Theaterzelts „Freudenhaus“ seit einiger Zeit optisch prägen. Wir empfehlen einen Besuch vor Ort, wo die Motive als gerahmte Sonderdruck-Kunstplakate in einer permanenten Ausstellung zu besichtigen sind. Bis dahin können Sie sich hier vom kraftvoll spielerischen Ausdruck der Arbeiten Susanne Wimmers überzeugen.

Wolfgang Mörth

miromente 73 – November 2023

 

 

BÜLENT KACAN
Hohenemser Literaturpreis 2023
Wir, Rotköpfe

SUSANNE WIMMER
Freudenhaus

ANDREA GRILL
ANNA OSPELT
Amseln

CHRISTIAN REIMANN

Eckzimmer

 

Leseprobe:

Wir, Rotköpfe

von Bülent Kasan

 

Mutter ist gestorben. Ich habe es mehr oder weniger zufällig erfahren. Ich erinnere mich genau: Es geschah an einem späten Nachmittag Ende September 2004. Ein Sturmtief war tags zuvor aufgezogen, es hatte für ordentlich Hochwasser an der Küste gesorgt. Am Himmel zogen dichte, nicht enden wollende Wolkenformationen auf und in den Nachrichten hieß es, während des Brandes in der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek seien weit mehr Bücher zerstört worden, als angenommen. Vater hatte mich gegen 17 Uhr abgeholt, wir wollten im Haus meiner Eltern zu Abend essen. Im Auto teilte er mir mit, dass er Mutter nicht erreicht habe. Den ganzen Tag über habe er versucht, im Krankenhaus anzurufen, ohne Erfolg. Ich erinnere mich genau: Eine gedrückte Stimmung kam auf und wir fuhren, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, die Strecke bis nach Hause. Aus heutiger Sicht bin ich mir sicher, dass mein Vater und ich eine leise Vorahnung hatten, doch weder er noch ich waren in der Lage, sie in Worte zu fassen. Als wir zu Hause angekommen waren, eilte ich zum Telefon, erkundigte ich mich bei meinen Vater nach der Nummer des Krankenhauses, nahm den Hörer ab und wählte. Es dauerte gefühlt eine halbe Ewigkeit. Ich habe den rhythmisch wiederkehrenden Ton der Leitung noch im Ohr, dann Stille, Totenstille, bis sich endlich jemand am anderen Ende der Leitung meldete. Die Stimme klang nervös. Im Hintergrund konnte ich übereinander stolpernde Stimmen hören, irgendetwas stimmte nicht. Ich erkundigte mich nach meiner Mutter, ein, zwei Mal – „Guten Tag, mein Name ist so und so, ich bin der Sohn von Frau K. Ich würde sie gerne sprechen“. Die Stimme am anderen Ende der Leitung murmelte irgendetwas ins Telefon, ich habe kein einziges Wort verstanden. „Hören Sie! Ich möchte meine Mutter sprechen! Geben Sie mir endlich meine Mutter!“ In diesem Augenblick, ich erinnere mich genau, mein Vater und meine beiden Brüder traten näher an mich heran, eine kleine Traube besorgt dreinschauender Familienangehöriger, drei dunkle Köpfe und ein Weißschopf, die sich um den Hörer herum versammelt hatten, ich sehe das Gesicht meines Vaters, sehe seinen weißen Schnurrbart, sehe seine buschig-weißen, ungewöhnlich stark abstehenden Augenbrauen auch jetzt deutlich vor mir, Anzeichen eines sich schonungslos offenbarenden Unglück, fasste die Stimme, nachdem eine weitere sie ein, zwei Mal eindringlich-flüsternd korrigiert hatte, am anderen Ende der Leitung Mut: „Haben wir schon versucht Ihre Mutter zu ani..ani..re...animieren...leider kein Erfolg.“ Ich weiß nicht, ich kann es nicht sagen, welche Gedanken mir in diesem Moment durch den Kopf schossen. Ich erinnere mich nur dunkel daran, dass ich aus voller Kehle: “Waaaaas?“, geschrien habe. Hin und wieder besuche ich einen dieser Einmal-im-Monat-Sonntagsflohmärkte meiner Heimatstadt und es kommt vor, dass mir eine der unzähligen Kopien von Der Schrei unter die Hände kommt, beispielsweise in Form eines Aufdrucks auf einer Kaffeetasse Made in China. Ich stelle mir in solchen Momenten dann die Frage, ob das Gespenst im Gemälde, das zum Schrei ausholt, auch vom Tod eines nahen Angehörigen erfahren hat; doch Gespenster, wie sollte es auch anders sein, schreien nicht, sie spuken. Mutter hat einmal erzählt, ich war noch ein Kind, dass Gespenster einem jeden Wunsch erfüllen würden, vorausgesetzt man hat viel Glück und begegnet einem, packt es am Kragen und pieckst es ordentlich mit einer Nadel. Ich persönlich bin noch nie einem Gespenst begegnet. Es sind die Geister der Gegenwart, die mir Angst machen und mit einfachen Nadelstichen lässt sich der Zeitgeist nicht beschwichtigen. Der Krieg in der Ukraine ist jedenfalls eine todernste Angelegenheit und der Dritte Weltkrieg bleibt ein Schreckgespenst, das in letzter Zeit öfter aufkreuzt – nicht zur Geisterstunde, um Mitternacht herum, sondern um Punkt 12 Uhr, in den Nachrichten; man muss nur genau hinsehen, dann sieht man es auch. Doch womöglich sind wir selbst Gespenster, die wir von klein auf leise in uns hineinschreien und nur in Ausnahmesituationen bricht es aus uns heraus und unser inneres Leiden wird hörbar - und damit sichtbar für alle Welt. Plötzlich erschien eine andere Stimme am anderen Ende der Leitung, die übereinander stürzenden Stimmen im Hintergrund verstummten schlagartig. Die Stimme teilte mir in einem ruhigen, abgeklärten Ton mit, dass Mutter vor wenigen Stunden verstorben sei. Sie bat uns, ins Krankenhaus zu kommen. Es gäbe wichtige Dinge zu klären, die üblichen Formalitäten, wie man sie in ähnlichen Situationen überall auf der Welt abzuwickeln hat, in Deutschland erst recht. Ich erinnere mich genau: Ich habe den Hörer aufgelegt und meinem Vater und meinen Brüdern in einem nüchternen Ton mitgeteilt, dass Mutter gestorben sei. Die eben noch dichte Traube, deren bedrückende Enge nicht länger auszuhalten war, brach schreiend auseinander. Mein Vater fing augenblicklich an zu weinen. Nein, er weinte nicht bloß. Er schluchzte und heulte mit seinen 70 Jahren, wie ich ihn nie zuvor habe schluchzen und heulen, wie ich nie zuvor habe weinen, wie ich ihn nie zuvor habe mit beiden Händen auf seine Oberschenkel und Knie schlagen sehen: „Vay! Vaay! Vaaay! Vaaaay!“.

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