miromente 77

In dieser Ausgabe möchten wir darauf aufmerksam machen, dass demnächst der dritte Roman des Vorarlberger Autors und Musikers Christoph Linher erscheinen wird. Er trägt den Arbeitstitel Stiller Transit, und schon der hier abgedruckte kurze Auszug zeigt, wie mühelos und atmosphärisch präzise es Linher erneut gelingt, uns durch die Gedankenwelt seiner Protagonisten zu führen.
Nach seinem Siegertext beim 8. Hohenemser Literaturpreis, der in der Nummer 73 nachzulesen ist, hat uns Bülent Kacan dieses Mal einen kurzen Essay mit dem Titel Kreis-innen-außen-Raum zur Verfügung gestellt, in dem er von den ambivalenten Auswirkungen eines starken Wir-Gefühls schreibt.
Bianca Tschaikner, die bereits in der Nummer 44 mit ihren von Reisen durch den Iran und Indien inspirierten Zeichnungen vertreten war, stellen wir in dieser Nummer erstmals als Autorin vor. Ihr Text Safdarjung handelt von einem Besuch in New Delhi und dem Eindruck, den die Stadt, vor allem aber das titelgebende Mausoleum auf sie gemacht haben.
Thomas A. Sieber, dessen Name vor allem als Science-Fiction-Autor bekannt ist, ist zum ersten Mal in der miromente vertreten. Seine hier abgedruckte Kurzgeschichte Kolonie erzählt den brutalen Krieg übermächtiger Invasoren gegen ein machtloses Volk als zeitübergreifende Parabel.
Der Herausgeber steuert eine Erzählung mit dem Titel Alte Feinde bei, in welcher der Pfleger eines Lustenauer Altenheimes entdeckt, dass einer seiner Patienten ein ehemaliger sowjetischer Agent ist.
Der bildnerische Beitrag in diesem Heft stammt von der in Bratislava geborenen und in Wien lebenden Künstlerin Miriam Bajtala. Die großformatige Fineliner-Zeichnung ist als Serie von Detailansichten so im Heft verteilt, dass das Vielsagende und zugleich Verschlüsselte der Gesamtkomposition deutlich wird.
Wir danken allen Beteiligten für ihre Beiträge und wünschen unseren Abonnentinnen und Abonnenten eine erkenntnisreiche Lektüre und Betrachtung.

Wolfgang Mörth

miromente 77 – November 2024

 

 

CHRISTOPH LINHER
Stiller Transit

MIRIAM BAJTALA
Mädchen mit Pferd

BÜLENT KACAN
Kreis-innen-außen-Raum

BIANCA TSCHAIKNER
Sofdarjung

THOMAS A. SIEBER
Kolonie

WOLFGANG MÖRTH
Alter Feind

 


Leseprobe:

Stiller Transit

von Christoph Linher

Jaspers Gedanken sind Falter, sie fliegen die unvorhersehbaren Manöver eines Admirals oder Schwalbenschwanzes, wie aus einem Kokon schlüpfen sie aus seinem bloß spaltbreit geöffneten Mund und zerteilen den Raum im Flug, zerlegen ihn in ein verstörendes Geflecht aus Matrizen. Jasper sagt Die Nacht ist ein Senkblei und Ewigselbe Seelenmechanik; und das bisschen Restlicht, das durch den Vorhangschlitz fällt, legt sich in das Zimmer wie ein graues totes Tier. Ich betrachte Jaspers Gesicht, seine rauen Hände und den unter der Decke begrabenen Körper, den ich trotz allem sehe: kantig und offenwundig. Irgendwo da unten befindet sich sein Schwanz, unförmig, fremdkörperlich, vom Körper entfremdet, wie eine ausgestorbene Molluske hängt er sinnlos zwischen den Lenden. Ich muss an die Ediacara-Fauna denken, an diese vielleicht ersten Vertreter vielzelliger tierischer Weltgeschöpfe, bizarr in ihrem Aussehen, manchmal noch nicht billateralsymmetrisch aufgebaut, fremdgestaltig, phantasmagorisch. Ich wende den Blick ab. Unser Schweigen füllt unsere Köpfe. Ich schaue auf den Kamin im Zimmereck, auf die in die Kacheln gearbeiteten Arabesken und dann auf die Brennraumtür, an der ich mir zu Beginn unseres Hierseins, als das Heizen mit Holz noch erlaubt war, beim Nachlegen eines Scheits eine Wunde zugezogen habe: ein annähernd kreisrundes, in die Haut des Handrückens hineingraviertes Brandzeichen wie die Markierung zur Registrierung eines Rinds. Und der Ofen: Der Kachelofen ist bloß noch ein stummes, ein verstummtes Requisit, er steht da ohne jeden Zweck, außerstande, auch nur das geringste Mittel zu heiligen.

Die Werkstatt sorgt für sensorische Desensibilisierung. Schon lange nehme ich ihn nicht mehr wahr, den Geruch nach Planatol, Tapetenkleister und handgeschöpftem Papier. Im Allgemeinen ist die Reizverarbeitung gehemmt, Meine Verfasstheit, denke ich mir und betrachte mein Herz neben mir auf der Arbeitsplatte, ich betrachte es als das, was es tatsächlich ist, als etwas Außerkörperliches, wie einen Urinbeutel, den ich bei Bedarf in einem der beiden Metallwaschbecken im hinteren Bereich der Werkstatt entleeren kann. Ich befühle Makulatur-Pinsel-Falzbein, kann mich aber nicht dazu entschließen zu arbeiten, werfe einen Blick vorbei am Fensterkreuz – auf den Grenzbergen liegt etwas Winter. Es dämmert bereits. Ich betrachte die Digitalreklame auf der gegenüberliegenden Häuserfront, eine Versicherung wirbt dafür, nichts dem Zufall zu überlassen, ein Mann in Norwegerpullover, föhnfrisiert und lachend, umarmt eine Frau, ich sehne mich nach einer echten Berührung oder wenigstens nach einer schlichten Penetration, die Lust überkommt mich wie immer überfallartig, wie ein Häscher stellt sie mir nach, mit einem Genickbiss erlegt sie mich wie ein Raubtier seine Beute. Ich denke daran, wie mich Jasper damals angesprochen hat (wie lange ist das jetzt her?), an seinen Vorwand, seine Version, die ich ihm nie geglaubt habe, aber was spielt das für eine Rolle, die Wirklichkeit: Am Ende ist die Wirklichkeit nichts anderes als ein undurchschaubares, ein nicht zu durchschauendes In- und Nebeneinander unzähliger Versionen und Exegesen, man muss es so nennen, die Realität ist eine Glaubensfrage, der Schein bestimmt das Sein… –– Als ich mich dann doch dazu entschließen kann, endlich die Heftgaze mit dem Ansetzfalz zu verbinden, sehe ich, dass die Dunkelheit bereits das Fenster ausgefüllt hat, wie Druckerschwärze hat sie sich zwischen den Rahmen ausgebreitet. Fast unbemerkt. Die Nacht ist eine Diebin, denke ich mir, sie stiehlt dem Tag das wenige Licht, das ihm bleibt. Ich gebe mich unbeeindruckt. Was soll mich das angehen. Die Nacht kann mich mal, ich bin eine Unberührbare. Meistens jedenfalls. Manchmal bin ich auch einfach weidwund, gerade die Abendeinsamkeit ist dann sehr angriffslustig, gelegentlich ist sie ein Schlag ins Gesicht. Nur selten erhole ich mich davon. Ich steige dann in den Schlaf wie in trübes Wasser, ist mir etwas Ruhe vergönnt, wache ich nach zwei, drei Stunden wieder auf und habe das untrügliche Gefühl: Ich fühle, dass da etwas war, eine formlose Traumbewegung, eine Verstörung. –– Ich drehe mich zu Jasper (selten teilen wir noch das Bett), er befindet sich in labiler Seitenlage. Seit ich denken kann, ist er ein Seitenschläfer gewesen, seine Haut muss an diesen Stellen wundgelegen sein, dünn und gelblich wie Chinapapier stelle ich sie mir vor. Ich denke mir Jasper als Origamifigur, weiß aber nicht, was er darstellen soll. Einen sterbenden Schwan vielleicht. Oder eine Nymphe. Tatsächlich hat er etwas Mädchenhaftes an sich, gelegentlich auch etwas Theatralisches, Dramatisches, Jasper ist definitiv nicht das, was man sich gemeinhin unter einem echten Kerl vorstellt. Irgendwann einmal fand ich das anziehend, glaube ich, seine feminine Art hatte etwas Einnehmendes und unaufdringlich Sexuelles an sich, heute erscheint sie mir immer öfter nur noch lächerlich.

Bruuns´ Akzent hat etwas Gewinnendes, trotzdem verliere ich mich noch meistens in Bruchsekundenkürze, sobald ich die Schwelle zu seiner Praxis übertreten habe, ich gehe verloren zwischen Rotlicht emittierenden obskuren Lampen mit muschelförmigen Schirmen, Figuren aus Weißglas und anderen seltsamen Ziergegenständen. An den Wänden gerahmte Bilder mit so etwas Ähnlichem wie altertümlichen Stichen, die Pflanzen und Tiere abbilden, vergleichbar vielleicht mit den Zeichnungen und Illustrationen aus Enzyklopädien vergangener Jahrzehnte. Ein einbeiniger Beistelltisch (antik?), auf der Platte ein Amethyst – man würde es nicht für möglich halten, wie viele Dinge in so ein Leben passen… Einmal haben sich ein paar meiner Haarsträhnen verfangen im Perlenvorhang des Türstocks, ich fühlte mich ein wenig wie Abschalom, jedenfalls bildete ich mir das ein, aber nichts geschah, Joab verschonte mich, mit zwei schnellen Handgriffen löste ich mich aus meiner haarigen Situation und ließ mich in den Polstersessel sinken, fast buchstäblich – ich sank ein, bis ich glaubte, die Metallfedern zu spüren.
Wie immer empfängt mich Bruuns in einem Zweiteiler, diesmal in Burgunderrot, bis heute habe ich seinen Farbcode nicht durchschaut, gut möglich, dass es gar keinen gibt. Er macht eine einladende Handbewegung, sein Gesicht ist offen und freundlich, was allerdings nichts an meinem ersten Impuls ändert, auf dem Absatz wieder Kehrt zu machen. Wie noch fast jedesmal. Wenig überraschend trete ich trotzdem ein, eine Standuhr schlägt die halbe Stunde, weitere folgen, in den Augenwinkeln ein vergoldetes Pendel, Bruuns, denke ich mir, könnte ohne Weiteres einen Ramsch- oder Antiquitätenladen öffnen. Vermutlich eher Ersteres.
Nie fragt er mich, wie es mir geht. Ich schätze das. Irgendwann einmal, fällt mir ein, hat er mir das Du angeboten, ich schaute ihn wortlos an, ohne Worte fixierte ich sein Gesicht wie ein Vixierbild, dann schüttelte ich langsam den Kopf: Warum künstlich eine Nähe produzieren, wenn man doch nichts weiter will, als ein wenig Distanz zwischen sich und die Welt bringen… Bruuns lacht nicht selten, sein Lachen hat etwas Gutturales und Stakkatoartiges, ein bisschen erinnert es an den Balzruf eines Auerhahns, manchmal erweckt es auch den Eindruck eines refluxartigen Aufstoßens – zu Beginn, fällt mir ein, erschreckte es mich manchmal. Außerdem war ich mir nie ganz sicher, ob er verstand, was ich sagte, wovon ich sprach, heute weiß ich, dass es einfach zu ihm gehört wie seine graumelierte Heldenfrisur, die mich immer ein bisschen an He-Man erinnert, seine mäßig erfolgreich mit Botox behandelten Krähenfüße, die Gegenstände, mit denen er sich umgibt. Ganz abgesehen davon ist sein Verständnis auch zweitrangig, was zählt, ist das, was ich begreife, ich halte es für eine Mär, dass das eine wesentlich das andere begründen soll, am Ende ist jede Einsicht das Produkt der eigenen Überzeugungskraft, das Talent zur Selbsttäuschung.

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