miromente 78

Im Laufe dieses und des nächsten Jahres werden jene sechs
bildenden Künstler:innen, die für den letztjährigen, dem Thema Zeichnung gewidmeten »Kulturpreis Vorarlberg«nominiert waren, mit ihren eingereichten Arbeiten in der miromente vertreten sein. Den Beginn macht die in Bregenz lebende und arbeitende Sophia Weinmann mit sechs Beispielen aus ihrer Serie Linienstaub, filigranen und zugleich explosiven Tuschzeichnungen, die zwischen 2015 und 2021 entstanden sind. »Lebewesen sind Schneekristalle auf der Spitze einer Nähnadel. – Schneekristalle werden geklöppelt; das ist eine Arbeit für Engel.« Aus Bildern wie diesen webt Wolfgang Bleier unter dem Titel Für den Schnee eine Prosa von jener assoziativ fl ießenden, kraftvollen Textur, die wir in der miromente nun zum vierten Mal vorstellen dürfen. Sarah Rinderer erzählt in wegschnecken unter anderem von der Begegnung zweier junger Frauen während des einsetzenden isländischen Winters. Sól, die immer schon Gefallen an Schnecken gefunden hat, (»schnecken nehmen alles durch die haut auf. alles so zu spüren, so direkt ... so stell ich mir pures existieren vor«) taucht im Leben der Protagonistin auf, hinterlässt ihre mysteriösen Spuren, und verschwindet wieder.
Hannah Schraven ist zum zweiten Mal in der miromente vertreten, dieses Mal mit tabs, lunatic, dem Eröffnungszyklus ihres Gedichtbandes außerhalb der blessuren, der im vergangenen Jahr in der Reihe »Rohstoff« bei matthes & seitz erschienen ist. »es begann eines morgens 5 a.m. ich saß die ohren geglättet die wogen ließ ich draußen stehen am fenster als sich plötzlich und ohne weiteres vergehen eine spur am himmel zeigte« ...
In Let it be lässt Wolfgang Hermann einen Jugendlichen auf humorvoll-naive Art vom Besuch bei den schwäbischen Verwandten, den er in den 1970er-Jahren mit seiner Mutter unternimmt, sowie deren Gegenbesuch in Vorarlberg erzählen. »Ich glaube, sie wäre gerne länger bei Onkel Sepp und Tante Mariele geblieben, wo es so nett und lustig war verglichen mit dem strengen Eisschrank, in den wir zurückkehren würden.«
In lakonischem Tonfall beklagt der Protagonist von Amos Postners Kurzgeschichte Scharf denken seine schlechte Gedächtnisleistung. Um sie zu trainieren, dekliniert er nachts im Bett mit seiner Freundin das Alphabet nach Obstsorten durch: »Und mir fällt nichts dazu ein, kein Obst, das mit S anfängt.« Ann, seine Freundin, die das Spiel viel besser kann, »fragt mich manchmal, warum ich mir alles merken muss.«
Wir wünschen unseren Abonnentinnen und Abonnenten viel Vergnügen mit der aktuellen Ausgabe der miromente.

Wolfgang Mörth

 

miromente 78 – März 2025

 

 

WOLFGANG BLEIER
Für den Schnee

SOPHIA WEINMANN
Linienstaub

SARAH RINDERER
wegschnecken

HANNAH SCHRAVEN
tabs, lunatisch

WOLFGANG HERMANN
Let it be

AMOS POSTNER
Scharf denken

 


Leseprobe:

Jungtiere

von Amos Postner

Um Ernie trauerte ich auf einer Geburtstagsparty. Ich saß auf einer unter freiem Himmel aufgestellten Bierbank zwischen Mitschülern aus der Parallelklasse, die eifrig schmatzten, ein paar Meter entfernt stand der Grill. Es war der siebzehnte Geburtstag von Patrizia, Klassensprecherin aus der Parallelklasse, die immer ein bisschen zu viele Gäste zu ihren Geburtstagsfeiern einlud, so auch mich, weil wir morgens gemeinsam mit dem Bus fuhren und abends fünfzig Meter Schulweg teilten, ehe sie zu Hause war und ich noch dreihundert Meter weitermusste. Patrizias Eltern hatten einen Bauernhof und von meinem Schulweg wusste ich, dass auf der Weide vor diesem Bauernhof im Frühjahr und Sommer meist ein Kälblein stand, das Ernie hieß. Auf Patrizias Geburtstagsparty fehlte von Ernie aber jede Spur.

Als ich nach ihm fragte, wurde ich auf die Fleischpattys für die Do-it-your-self-Burger verwiesen, die nach und nach vom Grill aus serviert wurden. Da konnte ich das Patty, dieses Stück Fleisch, einfach nicht auf meinem Brot belassen. Ich wusste doch, dass das Ernie war, der da tot auf der Unterseite meines Burgerbrötchens lag. Patrizia, die mich von ihrem Platz schräg gegenüber aus dabei beobachtete, wie ich umständlich das Patty wieder vom Brötchen beförderte, sagte zu mir, ich solle mich nicht so anstellen. Ernie habe ein gutes Leben gehabt, ein richtig gutes, verglichen mit all den anderen Tieren, die ich vermutlich sonst aß, Tiere nämlich, die in einem dunklen, schlecht belüfteten, engen Verschlag lebten, bevor sie in einem ebenso dunklen, stinkenden Verschlag umgebracht wurden, bei natürlich hohen Qualitätsstandards, fügte sie sarkastisch hinzu.

Ich wollte ihr recht geben. Nur setzte bei Ernie das aus, was ich mir bis dahin immer beim Fleischkonsum dachte – nämlich: nichts. Ernie auf der Unterseite meines Burgerbrötchens, duftend, etwas von Fett triefend, genau richtig durchgebraten, hätte mein Aha-Erlebnis sein können, der Funke, der aus einem Einzelfall etwas Allgemeines werden lässt, eine Haltung, eine Position, aber falls es diese Gelegenheit tatsächlich gab, ich ergriff sie nicht. Ich legte bloß Er-nie zurück auf seinen Teller neben dem Grill, das war der Platz, von dem aus er am siebzehnten Geburtstag von Patrizia an den Feierlichkeiten partizipierte. Ich legte ihn behutsam zurück, fast, als würde ich ihn zudecken oder vielleicht streicheln. Ich verzichtete darauf, Ernie zu verspeisen. Heute kann ich sagen: Ernie war nie in meinem Bauch, aber Dutzende andere namenlose Kälber schon. Für Ernie machte ich eine Ausnahme, weil er einen Namen hatte, eine Geschichte, ein Gesicht.

Aber auch Patrizias Vater, Hermann hieß er, entging nicht, dass ich mit dem Fleisch-Patty hantierte. Er kam vom Grill zu mir herüber und fragte mich, ob etwas mit dem Fleisch nicht stimme. Eine weiße Schürze, die voller Fettspritzer war, umspannte seinen mächtigen Bauch. Während er sprach, konnte ich ihm nur auf die Hände schauen. Das waren die Hände, die geholfen hatten, Ernie mit auf die Welt zu bringen, das waren die Hände, die im feuchten, blutigen Uterus von Ernies Mutter nach Ernie gelangt hatten, geholfen hatten, dass Ernie, dieses Tier, das ich so oft auf der Weide gesehen hatte, dieses Tier mit den schönen braunen Kuhaugen, das Licht der Welt erblickte. Diese Hände hatten Ernie zu seinem Schlachter geführt.

Ich sagte zu Hermann, dass ich nicht essen könne, weil ich immerzu an Ernie denken müsse.

Ernie?, fragte Hermann zurück.

Das Kälblein, aus dem die Burger-Pattys sind, meinte ich. Hieß es nicht so?

Hermann lachte und sagte, dass er dem Kalb keinen Namen gegeben habe, das sei eine von Patrizias Spinnereien. Er sagte, es sei nicht richtig, Tieren Namen zu geben, das vermenschliche sie nur. Am allerschlimmsten finde er da die Zoos, in denen die Eisbären Knut und Lars heißen und die Pandas irgendwelche chinesischen Namen tragen, da bekämen die Tiere auch noch gleich eine Nationalität. Da könne man gleich auch noch einen Reisepass, einen Staatsbürgerschaftsnachweis, eine Geburtsurkunde und vielleicht auch noch eine Steuernummer für sie ausstellen. Er hielt sich vor Lachen den dicken Bauch, in dem, wie ich mir vorstellte, ein Stückchen von Ernie dahinfloss, wo Ernie gerade dabei war, von Magensäften aufgelöst zu werden, verdaut zu werden, als Fette und Proteine in Hermanns Blutbahnen zu geraten, sich in Hermanns Zellen abzulagern, um diesen Zellen Mitose zu ermöglichen und so den Organismus, der Hermann war, zu erhalten.

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