miromente 57

Die Nummer 57 der miromente ist in Kooperation mit dem Literaturfest Kleinwalsertal entstanden, alle Texte stammen daher von Autoren und Autorinnen, die zum Festival eingeladen wurden. Und da der Veranstaltung das Motto „überschreiten“ vorangestellt war – für einen Ort wie das Kleinwalsertal eine durchaus sinnfällige Metapher –, liegt es nahe, in allen Texten nach formalen und inhaltlichen Elementen zu suchen, die etwas mit dem Überschreiten einer Grenze zu tun haben. Unsere Vorschläge lauten: In Theresa Hannigs Science-Fiction-Geschichte geht es um die verschwimmende Grenze zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz. Hans Platzgumers Text balanciert auf der Grenzlinie zwischen der allgemeinen Form des Essays und der einer intimen Biografie. Die Protagonistin in Daniela Eggers Geschichte „Die Nacht des Kaisers“ ist eine Grenzgängerin zwischen abendländischer und fernöstlicher Kultur. In der Erzählung „Die Großmutter“ sucht Jürgen-Thomas Ernst nach jenem Moment, in dem Unterdrückt-Sein in Selbstjustiz kippt. Und Verena Boos beschreibt anhand der theoretischen Beschäftigung mit ihrem eigenen Romans „Kirchberg“ jene Bruchlinie, die sich zwischen Erinnern und Vergessen auftut. Hinzu kommen eine Kurzgeschichte von Ivica Mijajlovic und ein Gedicht von Ines Strohmaier, die ihre Texte normalerweise, und so auch beim Literaturfest Kleinwalsertal, auf den Slam-Bühnen des deutschsprachigen Raumes präsentieren.
Auch der bildnerische Beitrag des Kleinwalsertaler Holzschneiders (und profunden Kenners des Tals) Detlef Willand passt perfekt in die Reihe der Grenzerfahrungen. In einer Serie von acht Holzschnitten vollführen seine allegorischen Figuren den makabren Tanz, der das Ende ihrer Existenz einläutet. „Das Theater, in dem mein Totentanz stattfindet, ist die Natur des Gebirges, das Stück, das gegeben wird heißt: ‚Harter Tourismus’“, schreibt Willand an anderer Stelle. Und in den Bildern, die er uns zum Abdruck überlassen hat, rechnet er humorvoll aber unmissverständlich mit den Vertretern jener Wirtschaftszweige ab, die für die damit zusammenhängenden Zerstörungen verantwortlich sind.
Wir wünschen allen Leserinnen und allen Betrachtern dieser Nummer eine erkenntnisreiche Lektüre.

Wolfgang Mörth

miromente 57 – Oktober 2019


DETLEF WILLAND
Ein Totentanz im Gebirge

THERESIA HANNIG
EVI

HANS PLATZGUMER
Sitting in Silence

DANIELA EGGER
Die Nacht des Kaisers

JÜRGEN-THOMAS ERNST
Die Großmutter

VERENA BOOS
Heimat im Vergessen(en)

IVICA MIJAJLOVIC
Christiano Ronaldo ist
ein gottverdammter Schönling

INES STROHMAIER
Da wo die Seelen warten



Leseprobe:

Die Nacht des Kaisers
Daniela Egger

Schon bei unserer ersten Begegnung war ich seine eifrigste Schülerin geworden. Als er mir lächelnd eine Tasse Tee reichte und mich bat, einen Schluck zu kosten, hatte ich den letzten Atmenzug mit dem Selbstverständnis einer europäischen Frau getan. Während der Tee meinen Mund und Hals wärmte, verwandelte ich mich in ein Wesen aus einer mir unbekannten Vergangenheit. Es war ganz offensichtlich zeitlebens in mir gewesen, und ich begriff in dieser Sekunde, dass nichts je vergeht. Dass alles, was ich erlebt und getan hatte, in mir eingraviert war, dass alle Erfahrungen und jede Gefühlsregung jederzeit in mir geborgen waren. Das Wesen aus alter Zeit war vom sanften Duft des Tees aufgewacht und tat seinen ersten Atemzug in mir. Nichts war mehr wie zuvor. Ich sah mich erstaunt im Zimmer um, sah den Meister lächelnd eine der Tassen reinigen, alles sah aus wie eben noch und war doch vollkommen verändert. Mein Blick war ein anderer geworden. Er tauchte das Zimmer in ein ebenso sanftes Licht wie der Duft des Tees. Gleichzeitig brannte eine neue Entschlossenheit in mir. Ich wollte von ihm lernen. Ich war von dem Wunsch erfüllt, zu wissen, welche Magie in dieser Tasse Tee seine seltsame Wirkung in mir entfaltet hatte. Der chadō, der Weg des Tees, war der nächste und folgerichtige Schritt, nichts anderes konnte jetzt noch passieren. Jedes weitere Erwachen in dieser Intensität wäre unnütz, würde ich einem solchen Ruf nicht folgen. In der Sekunde, als ich den Tee gekostet hatte, war ich bereit, ihm meine Zeit zu widmen und dafür alles aufzugeben, was ich bisher für mein Leben gehalten hatte.

Zu meinem großen Glück hatte der Meister nichts dagegen, er willigte ein, mich in seiner Kunst zu unterrichten. So kam es, dass ich mich in Tokyo für einen längeren Zeitraum einrichtete, mich ernsthaft um die Sprache bemühte und zwei Mal in der Woche einen Nachmittag in seinem Haus verbrachte. Bei der Teezubereitung war ich so ungeschickt, dass ich seine Geduld oft strapazierte, denn leider war mein europäisches Wesen bald wieder in den Vordergrund getreten und hatte die Sanftheit meiner älteren Lebensform weitgehend verdrängt. Es dauerte lange, bis ich in der Lage war, die rechte Menge Tee anzurühren, den winzigen Bambusbesen zu handhaben und die eleganten Bewegungen auszuführen, die es dem Geist des Tees ermöglichten, sich in dem heiligen Gefäß der Teetasse aufzuhalten.

Ich war leider zu gut darin, ihn gleich zu Beginn zu vertreiben und dem Meister eine inhaltlose Tasse mit gefärbtem Wasser anzubieten. Er bewies Geduld mit mir.

Ein Jahr später hatte ich gelernt, dass ich nichts wusste und wohl nie etwas wissen würde. Ich hatte immerhin auch verlernt, etwas zu wollen. Er war zufrieden mit mir, und weil ich auch gelernt hatte zu schweigen, durfte ich ihn zu einem besonderen Anlaß begleiten.

Der Meister war an den Kaiserhof geladen worden, um bei einem internationalen Bankett einen Teil der Teezeremonie für die Gäste abzuhalten. Er würde seinen wundervollen Tee zubereiten, in Anwesenheit des Tennō.

Ich wusste, dass mein Meister in Japan ein hohes Ansehen genoss, und fühlte mich geehrt, dass er daran dachte, mich zu dieser Einladung mitzunehmen. Mir wurde aufgetragen, möglichst nicht zu sprechen und nur höflich zu lächeln, wenn ich angesprochen wurde. Ich nahm mir vor, die westlich geprägte meiner beiden Seiten zu Hause zu lassen und mich so asiatisch wie möglich zu benehmen. Aber es kam anders.

Das Bankett war für eine amerikanische Delegation von Investoren ausgerichtet, ein unruhiger Kreis verwöhnter Menschen mit viel Geld. Alle redeten durcheinander, kommentierten alles und lachten an unpassenden Stellen und viel zu laut. Alle außer der anwesenden japanischen Gesellschaft rund um den Tennō, der sich zwar sehr souverän und weltoffen bewegte, aber auf Schritt und Tritt von seiner Entourage begleitet wurde. Diese verbreitete eine gewisse Anspannung, wenn sich jemand allzu locker ins Gespräch mit seiner kaiserlichen Hoheit vertiefte. Ich hatte in den letzten zwölf Monaten keine zehn Ausländer angetroffen und war ziemlich verwirrt, plötzlich die so ganz andere Körperhaltung der Männer und Frauen zu sehen, die umgehend auf meinen Körper überging, als hätte ich nichts gelernt. Es dauerte lange bis mir wieder einfiel, dass ich zu der japanischen Gesellschaft gehörte und nicht zu den Amerikanern. Viel zu selbstverständlich hatte ich mich am Buffet bedient, mich mit einem jungen Mann unterhalten und dabei einige Scherze über japanische Gebräuche gemacht, hatte mich lachend und gut gelaunt in Gespräche ziehen lassen und dabei meinem Gegenüber geradewegs in die Augen gesehen.

Ich erinnerte mich in dem Moment, als der Kaiser selbst neben mir ans Buffet trat. Er lächelte freundlich und fragte: „Und woher kommen Sie?“ Ich fand nicht sofort wieder in meine mir zugewiesene Rolle als stille Beobachterin und bemerkte erschrocken, dass ich im scherzhaften Ton von soeben weitersprach. Gleichzeitig dachte ich daran, dass die Situation in den Augen meines Teemeisters allmählich zu einem Affront werden musste. Ich erwähnte launig, einfach weil ich den passenden Ton in der Eile nicht traf, den Namen des Bregenzerwälder Dorfes, in dem ich einen Teil meiner Jugend verbracht hatte, schlug aber in der Mitte des Satzes beschämt die Augen nieder und verbeugte mich tief. „Verzeihung,“ murmelte ich leise.

Ich hatte ihn zum Lachen bringen wollen, was dumm von mir war.

Er aber reagierte höchst überraschend. Zunächst entfuhr ihm ein kleiner Aufschrei, den er schnell unterdrückte. Ich hatte mich aufgerichtet, weil ich nicht wusste, was jetzt zu tun wäre. Seine Augen leuchteten, er lächelte beseelt, er schwieg. Ich wagte nicht, mich zu entfernen und blieb etwas ratlos stehen, nicht vertraut mit der Etikette. „Ganz im Westen Österreichs,“ fügte ich hinzu. Hilfesuchend blickte ich mich nach meinem Meister um. Er war nicht zu sehen. Ich versuchte selbst mit der Situation zurechtzukommen, verbeugte mich einfach wieder, diesmal noch tiefer und wartete ab. „Das ist in der Tat erfreulich,“ erwiderte der Kaiser von Japan und deutete eine winzige Verbeugung an.

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