miromente 64

Im Mai fand im Bregenzer Theater Kosmos die Uraufführung des Kurzdramas „Die Ungetrösteten“ statt, mit dem der deutsche Autor
Armin Wühle den Kosmos-Stückewettbewerb gewinnen konnte. Dieses Ereignis haben wir zum Anlass genommen, einen Ausschnitt aus seinem Debütroman „Getriebene“ zu veröffentlichen, der ebenfalls heuer erschienen ist und dessen fesselnde Handlung in der von Bürgerkrieg und Kriegstourismus geprägten fiktiven Stadt Thikro spielt.
Mit Raoul Eisele stellen wir Ihnen einen jungen Lyriker vor, der im
ersten Vers seines ersten hier abgedruckten Gedichts („und du denkst in Gedichten deinen Alltag mit“) eine Spur legt, die schon im zweiten
Vers („denkst an Roscoff und Bootsskelette“) eine überraschende Wendung nimmt.  
Der Liechtensteiner Autor Stefan Sprenger, den aufmerksame Leser
der miromente bereits kennen, hat uns eine virtuos gestaltete, analytisch scharfsinnige und dabei urkomische Geschichte zur Verfügung gestellt,
in der es um die drohende Auswanderung der Fürstenfamilie auf den
Mars geht.
Und die in Vorarlberg geborene und in Wien lebende Autorin Monika Schwärzler zeigt in ihrem Text „Epidermisches“, wie der Anblick von ein paar Hautunreinheiten im Gesicht, Aspekte einer komplexen Familiengeschichte an die Oberfläche bringen kann.
Bei den Abbildungen handelt es sich um die erste Hälfte einer Serie von Zeichnungen des ebenfalls in Wien lebenden Künstlers Moussa Kone. In starken Kontrasten und aus expressiven Perspektiven betrachtet, erzählt er die Geschichte eines blutähnlichen Rohstoffs, den die Menschen zutage fördern, um damit eine Reihe übermächtig scheinender mythischer Wesen zu nähren. (Die ganze Bildserie ist auf www.moussakone.com zu sehen.)
Wir wünschen Ihnen anregende Erkenntnisse bei der Lektüre dieser Ausgabe.

Wolfgang Mörth

miromente 64 – Juli 2021

 

MOUSSA KONE
The Vital Force

ARMIN WÜHLE
Gebtriebene

RAOUL EISELE
Luftwurzeln

STEFAN SPRENGER
Ein Haus dir zu eigen

MONIKA SCHWÄRZLER
Epidermisches

 

 

Leseprobe:

Ein Haus dir zu eigen 

von Stefan Sprenger

1.
"Licht."
Während sie sich aus dem Mantel schälte, öffnete die Haussteuerung mit leisem Surren die Garderobe und fuhr eine Hakenleiste aus. Sie hängte den Mantel ein, schlang den Datenfoulard um den Kragen und tastete vorsichtig in der rechten Manteltasche nach dem Stein. Er hatte sie gewarnt, dass man sich an dem rostbraunen Vulkanglas leicht verletzen könne, und sein Einstecktuch mit einer flüssigen, beiläufigen Bewegung aus der Brusttasche gezogen, den Stein darin eingeschlagen, über den Tisch gereicht. Sie hatte ungläubig auf das eingestickte Monogramm und das zur Hälfte sichtbare Wappen gestarrt, er hatte gelächelt, mit einer Sanftheit und einer Ferne, als sei er bereits dort draussen, unter den Sternen, Frau Mündle?
Sie hatte sich zusammengerissen und den Stein angenommen, während das eben Vernommene in ihr weitergepoltert hatte, immer noch weiterpolterte, wie sie jetzt geradezu betäubt im Flur ihrer Wohnung stand, die linke Hand um das Poschettli des Fürsten und das Stück Marsbruchstein geschlossen.
"Home! Licht!"
Anstatt dass die Lichtleisten an der Decke aufglommen, schimpfte die Haussteuerung sie im breitesten Schaaner Dialekt eine Baba, und ob es nicht in ihr Hennahirni ginge, dass sie ein Retrofitting der Wohnung mit Lichtschaltern aus dem 20. Jahrhundert habe machen lassen, also, wenn der Rollmops Licht wolle, dann solle sie gefälligst die Pfote heben und den Bakelitschalter betätigen, ned denka för füüf Rappa, dummi Schachtla, dia ...
Rollmops! Dieses verdammte Sprachprogramm! Cass hatte sie tagelang beschwatzt, was für ein Spass es sein würde, der Haussteuerung die Stimme "Male Chauvinist, Liechtensteiner Oberland, 1950" zu verpassen - tatsächlich waren sie beide letzte Nacht um Viertel vor zwei geweckt worden, als der hörbar Betrunkene aus allen versteckten Lautmembranen und mit dröhnendem Bass verlangt hatte, die Wiibr sollten ihm Bier aus dem Keller holen, abr hurtig, sos gits a paar ufs Födla!
"Home. Voice Control. Änderung Sprachprogramm. Stimme neutral, synthetisch, Standarddeutsch 2118. Bestätigen."
"Bestätigt."
Nach längerem Herumtasten fand sie den Lichtschalter neben der Eingangstüre und begriff eine halbe Minute nicht, dass es kein Kipp-, sondern ein Drehschalter war. Langsam, wie eine Morgendämmerung im Zeitraffer, wurde es in der Wohnung zuerst hell, kühl, blaustichig, dann färbte sich das Licht warm, spielte wie Sonnenschein durch Laub über die Sitz- und Liegelandschaft im Panoramazimmer.
"Home. Trost."
Fernes Lachen, Leute, die ein paar Häuser weiter miteinander übers Wetter schwatzten, Krähen, Hunde, der Viertelstundenschlag der Eschner Pfarrkirche, das Dengeln einer Sense, jetzt die Chorprobe, rufende Kinder ... all das durchflochten mit einem einzelnen, seidenen Sinuston, tänzelnden Pianokoloraturen. Das Dorf tat es nach wie vor für sie, der Dorfsound vor was - hundertfünfzig, zweihundert - Jahren? Mit der rechten Schuhspitze streifte sie den linken Halbstiefel von der Ferse, mit den bestrumpften Zehen den zweiten, legte sich auf das Velourssofa und starrte an die Decke, wo die Haussteuerung mittlerweile Zirren in einem tiefen Septemberblau segeln liess, ein einzelner, gleissender Punkt Kondensstreifen zog.
Sie würde morgen als erstes die anderen Regierungsrätinnen, die Landtagspräsidentin, die Fraktionssprecherinnen informieren müssen, dass man das bereits aufwendig vorbereitete Jubeljahr '400 Jahre Fürstentum Liechtenstein' absagen oder zumindest ganz anders angehen müsse. Ohne dass es ihr bewusst war, hatte sich bei diesem Gedanken ihre Faust um den Stein gekrampft; die messerscharfe Kante schnitt in die Handfläche, ein wenig Blut sickerte in das zerknüllte Staatswappen. Benommen führte sie die blutende Hand an ihre Lippen, hatte den Geschmack von Erde und Eisen im Mund.
Morgen würde sie in fassungslose Gesichter blicken und zuerst Ungläubigkeit und dann den Schock sehen, den sie an diesem späten Novembernachmittag auf Schloss Vaduz selbst empfunden hatte, als Fürst Meinrad I. von und zu Liechtenstein ihr, der liechtensteinischen Regierungschefin Valeria Mündle, kundgetan hatte, er gedenke am 23.1.2119 nicht die Feierlichkeiten zu eröffnen, sondern abzudanken und mit der gesamten Sippschaft auf den Mars auszufliegen.

2.
Nach Bekanntwerden der fürstlichen Absichten lag drei Tage lang eine vorzeitliche Stille über dem Land. Danach wähnte man sich zwischen Ruggell und Balzers in einem Hornissennest.
Die Mündle hatte vor vielen Jahren in den slowakischen Karpaten einen Sommer in Gesellschaft eines Hornissenschwarms verbracht, der in der Aussenwand ihres Zimmers zwischen Täfer und Lärchenschirm Quartier bezogen hatte und mit dem konstanten Summton Teil ihres Mobiliars geworden war. Wenn sie schlaflos lag - und es waren jene Jahre in ihrem Leben gewesen, in denen sich sowohl Mündles chronische Schlaflosigkeit als auch ihre gespenstische Luzidität herangebildet hatten -, presste sie ihr Ohr an das Täfer: Zu hören war unter dem Summen zusätzlich ein Ticken wie das Drängen feinster Hagelkörner gegen Fensterglas, ein Ticken, das in seiner unerschütterlichen Rastlosigkeit von grosser Befriedigung für Mündles ganz ähnlich arbeitendes Bewusstsein war, weil dessen Unruhe, je länger sie dem ständigen Zug der Hornissen durch ihren Zellstoffbau hinter dem Täfer lauschte, desto vollständiger in die Wand diffundierte. Sie erwachte in der Frühe mit der Empfindung, einer tiefgreifenden Reinigung unterzogen worden zu sein - und dem Abdruck der Täfermaserung im Gesicht. Es ging der Mündle in den Wochen nach Ankündigung der durchlauchtigsten Reise zum Mars ähnlich: Das Summen und Ticken im Hornissenstaat Liechtenstein belebte sie wie das Einströmen einer grossen, bis anhin unbekannten Kraft.
Nicht wenige Stiche zielten auf die Mündle selbst: Die eigensinnige Lesbe habe mit ihrer politischen Renitenz die Staatsharmonie zerstört und den Landesvater vertrieben - ein Angriff, den sie mit dem Satz parierte, ihr schmeichle die enorme Bedeutung, die ihr offenbar in den Augen der Bevölkerung zugemessen werde. Fast täglich zogen Bittprozessionen zum Schloss: Alle wurden höflich empfangen, exquisit bewirtet, aufmerksam angehört und mit Verständnis bedacht - allein, an den fürstlichen Reiseplänen änderte sich kein Jota.
So schossen Ehrgeiz, Aufstiegspläne und Machtwünsche der verschiedenen Stämme wie Spiesse vor einer mittelalterlichen Feldschlacht hoch. Der füchsische Manuel Mochita Marxer etwa, der mit der globalen Vermarktung seiner digitalen Patente ein enormes Vermögen gescheffelt hatte, brachte sich selbstbewusst als möglicher Erbmonarch ins Spiel, wurde aber derart mit Hohn überzogen, dass er erzürnt seinen Steuersitz in die chinesische Kolonie auf der Rückseite des Mondes verlegte.
Auch Immobilienmakler, die, in der Annahme, ein Teil der Liechtensteinerinnen werde der Familie L. bis auf den Mars folgen, mit Jahrhundertgeschäften gerechnet und ihr Personal aufgestockt hatten, sahen sich sowohl enttäuscht als auch bespöttelt: Die Bindung der Einheimischen an Riet und Rüfe war bedeutend stärker als die Gefolgschaft mit den Fürstens und der Lockruf des Roten Planeten.
Ernster bedacht wurde das Schaulaufen europäischer Adelsgeschlechter, die nach der angekündigten Abdikation in Vaduz einfielen, um sich um den vakanten Thron zu bewerben. Die sehr distinguierte Eulalia von Habsburg wurde mit Bestnoten juriert, aber die Mündle, der der eitle Reigen je länger je mehr zuwider wurde, stellte öffentlich die Frage, ob man sich bei aller Panik einer möglichen staatlichen Unbehaustheit wegen unter das Vordach eines erstbesten adeligen Hauses flüchten müsse, oder ob man sich als Souverän Volk - ein Haus nur Dir zu eigen! - auch anders zu denken wage!? Zum Zeitpunkt ihrer Rede löste sich im Dolomitschrofen der Drei Schwestern eine grössere Kubatur Gestein, fuhr mit Getöse zu Tal und richtete kaum Schaden an. Den naturmagisch empfindlichen Liechtensteinerinnen ging allerdings an jenem Abend der Staatshintern auf Grundeis.
Kurz darauf begann das Gerücht zu laufen, die Republik Österreich könne sich eine Eingliederung Liechtensteins als Teil des Bundeslandes Vorarlberg vorstellen: Wien hatte mit dem geschickt platzierten Hinweis gegen das zweite liechtensteinische Schienbein getreten, die Eigenstaatlichkeit, während man im Land noch beschäftigt war, sich das wunde duale zu reiben.

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