miromente 74

In der aktuellen Nummer erscheinen drei Geschichten, die alle melancholisch stimmen könnten, würde da nicht jeweils die Hoffnung auf einen erfolgreichen Akt der Befreiung durchschimmern. Julia Willmann erzählt in Cowboy von einer beglückenden Freundschaft, die mit der Zeit ins Unglück einer Liebe mündet. »Unsere Trennung begann nach drei Jahren und sie dauerte ein weiteres, bis wir es merkten«, lautet eine der lakonischen Zustandsbeschreibungen einer unmöglichen Beziehung.
Daniela Eggers Geschichte Thembas Reise nach Europa greift das politisch brisante Thema der Fluchtbewegung aus Afrika auf, schildert den Aufbruch ihres Helden Themba vom afrikanischen Kontinent aber nicht als Verzweiflungstat, sondern als den Beginn einer Heldenreise, die den jungen Protagonisten letztlich zu einem Mann machen soll.
Und Eva Woska-Nimmervoll, deren Roman Heinz und sein Herrl unter anderem beim Harder Literaturpreis und in der miromente seinen Ausgang nahm, interpretiert in ihrer Erzählung Coming of Age das Thema Erwachsenwerden anhand eines nicht mehr wirklich jungen Mannes, der es immer noch nicht geschafft hat, sich von seinen verstorbenen Eltern abzunabeln. »Sie begleiteten ihn mit Ratschlägen, Sprichwörtern, Scherzen und Vorwürfen durch Haus und Garten«, heißt es und das, obwohl er ihre Asche schon lange in einer Urne »zusammengeschüttet« hat.
Die Serie von Bildern mit dem Titel floating women hat uns die Vorarlberger Künstlerin Anna Stemmer-Dworak zum Abdruck überlassen. Noch nie sind Figuren derart leicht und anmutig durch das Heft geschwebt, gefallen, gekreist und getaucht wie diese, finden wir.
Wir danken den Autorinnen und der Künstlerin für ihre Beiträge und wünschen allen Abonnentinnen und Abonnenten eine anregende Lektüre und Betrachtung.

Wolfgang Mörth

miromente 74 – Dezember 2023

 

 

ANNA STEMMER-DWORAK
floating women

JULIA WILLMANN
Cowboy

DANIELA EGGER
Thembas Reise nach Europa

EVA WOSKA-NIMMERVOLL

Coming of Age

 

Leseprobe:

Cowboy

von Julia Willmann

Er sah aus wie der Cowboy, der ich als Kind sein wollte. Wir standen uns auf dem Marktplatz einer provenzalischen Kleinstadt gegenüber, in die ich unter dem Vorwand gekommen waren, Französisch zu lernen. Wie die meisten hier, auch Lelo. Er kam aus Nordrhein-Westfalen, was mir nicht viel sagte, und seine Augen hatten die unwahrscheinliche Farbe des Meeres, wie man es von Urlaubspostkarten aus der Südsee kennt. Als er zu mir heruntersah, löste ein Grinsen zwei tiefe Furchen auf, die sein Gesicht abwärts ziehen wollten. Dieses Grinsen sah nach etwas aus, das für alle, die es betraf, unterhaltsam werden konnte. Aber nicht für alle gleich lustig. Obwohl ich mir damals bei jedem Jungen, der mir gefiel, vorstellen musste, wie es wäre, mit ihm ins Bett zu gehen, fiel mir Sex bei Lelos Anblick nicht ein. Ich wollte keinen Sex mit Lelo. Ich wollte auf der Seite derer stehen, die wussten, worüber er grinst, und die mitgrinsen durften. Die Frage, wie ich mich dieser Komplizenschaft würdig erweisen könnte, war ebenso reizvoll wie beunruhigend.


Am Anfang sahen wir uns nur aus der Ferne. Ich schlief wenig, rauchte viel und ernährte mich hauptsächlich von Baguette und Camembert, was dazu führte, dass ich oft krank war und mich nur an den Tagen in die Sprachschule schleppte, an denen Aimé Fleury, ein dunkelhaariger Referendar aus Paris, im Schneidersitz auf seinem Pult saß und mit seidiger Stimme über Montaigne monologisierte. Nach drei Monaten, Anfang Dezember, hatten die beiden Schwedinnen, mit denen ich in einem Plattenbau am Stadtrand wohnte, genug von meinen Ausreden, was das Einhalten von Einkaufsregeln und Putzplänen anging. Lelo suchte zur selben Zeit eine Nachfolge für das Zimmer, das sich in seiner Zweier-WG leerte. Er wohnte in der Altstadt, in einem Haus mit blauen Fensterläden und einem Café im Erdgeschoss, wo Jazz lief und die beste Fougasse der Stadt gebacken wurde. Mir war damals unklar, woran zu glauben sich lohnt. Trotzdem betete ich vor jedem Einschlafen, nach dem Aufwachen und rund um alle Mahlzeiten für eine Zusage von Lelo und wurde erhört.

Das Zimmer war winzig. Erstmals im Leben begann ich, Klopapier und Spülmittel einzukaufen. Ich saugte ein Mal wöchentlich und klopfte an, wenn ich Lelos Zimmer betreten wollte. Dort befand sich unsere Küchenzeile. Und Fiona, Lelos Freundin. Fiona kam aus Wales. Sie verließ Lelos Bett nur, um hin und wieder das Dachfenster zu öffnen und etwas hinunter zu den Cafétischen zu rufen, wo ihre Freundin Charlotte mit dem maghrebinischen Koch Backgammon spielte und eine filterlose Zigarette nach der anderen rauchte. Selbst wenn Fiona ihre Stimme erhob, klang es, als teile sie sich unter Hypnose mit. Alles an ihr war weich und schwer, auch ihre Brüste, die sich wölbten wie Sahnetropfen. Manchmal bekam ich sie unbeabsichtigt zu sehen und es erstaunte mich, dass das Leben Fiona einen solchen Busen gegeben hatte, einfach so, genau wie mir meine knochigen Knie und die langen Arme, über die die Venen krochen wie zusammengewachsene Regenwürmer.

Wenn Lelo sich langweilte, tippte er an meine Zimmertür, lehnte sich in den Rahmen und begann eine Plauderei. Darin ging es um festgeklebte Handtaschen und vertauschte Schuhe, um Senfpralinen und den mit Schokopudding gefüllten Briefkasten seines letzten Gitarrenlehrers, lauter Unternehmungen, die mit Lelos schlitzohrigem Grinsen in Verbindung standen.
Bestens, sagte er, wenn unser Gespräch aus seiner Sicht beendet war. Hier wohnt mein Geist – er deutete mit dem Kinn auf meine angezogenen Knie, die ein Buch balancierten – und da drüben mein Körper.
Soso, antwortete ich.
Unsere Augen wanderten Richtung Nebenzimmer, wo Fiona in schleppendem Walisisch etwas aus dem Fenster rief, was wir bis auf das Wort cigarette nicht verstanden.

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