miromente 76

Ariadne von Schirach ist in Vorarlberg schon mehrfach in Erscheinung getreten, unter anderem bei den Tagen der Utopie 2021 und bei den Montforter Zwischentönen 2022 und 2023. In ihrer Rolle als »Philosophin in Residence« hat sie im vergangenen Jahr diesen hier erstmals auf Papier erscheinenden Text als Vortrag bei den Montforter Zwischentönen gehalten. Dieser Nachruf auf den Anstand, bei dem es sich in Wahrheit um einen leidenschaftlichen Aufruf handelt, ihn nicht endgültig sterben zu lassen, hat zumindest mich mit dem wertvollen Gefühl beschenkt, nach seiner Lektüre ein besserer Mensch zu sein als vorher; vielleicht geht es Ihnen ähnlich.

Der in Jena geborene und in Berlin lebende Autor Ron Winkler, der schon im Jahr 2000 bei dem von Literatur Vorarlberg und vom Dornbirner Spielboden veranstal- teten Lyrikfestival »Poesie International« zum ersten Mal in Vorarlberg aufgetreten ist, gehört mittlerweile zu den Stammautoren der miromente. »Sprache ist ein Trichter, durch den die Welt ins Ich fließt und es verändert« schrieb er einmal, und es empfiehlt sich, diesen Satz auf die hier veröffentlichten Texte Winklers anzuwenden, um seine Bedeutung richtig zu verstehen.

Der aus Vorarlberg stammende und im süditalienischen Lecce beheimatete Künstler tOmi Scheiderbauer ist mit zwei Teilen einer Textserie vertreten, in denen er sich mit seiner Krebserkrankung auseinandersetzt. Das Besondere daran ist, das Scheiderbauer die Krankheit nicht als Leiden schildert, sondern als Aufforderung, sich ihr quasi anzu- vertrauen, um sich von ihr in bisher verschlossene Bereiche der eigenen Persönlichkeit führen zu lassen. Sowohl die durch den Text laufenden Fotografien als auch die Grafik in der Heftmitte sind Arbeiten, die während der Zeit der Erkrankung entstanden sind.

Mit der Geschichte There is more stellt uns die Vorarlberger Autorin Claudia Endrich jenen Text zum Abdruck zur Verfügung, mit dem sie im vergangenen Jahr den Schwäbischen Literaturpreis gewonnen hat. Eines der Jurymitglieder beschrieb ihn als »eine wunderbare Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Liebestöters Amazon.« Und in der Tat ist es eine Art Wunder, die sich als Konsequenz aus den Erfahrungen eines Staplerfahrers und einer Einpackerin, die in der riesigen Halle eines Amazon-Verteilzentrums arbeiten, am Ende ereignet.

Wir danken den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und wünschen allen Abonnentinnen und Abonnenten eine anregende Lektüre.

Wolfgang Mörth

miromente 76 – Juni 2024

 

 

ARIADNE VON SCHIRACH
Anstand. Ein Nachruf.

RON WINKLER
Das muss ein Missverständnis sein

TOMI SCHEIDERBAUER
Ich bin
Meine Freund:innen, der Tumor und die Kunst

CLAUDIA ENDRICH
There is more

 


Leseprobe:

There is more

von Claudia Endrich

Beep. Beep. Beep. Mein Handscanner beept. Er ist mein Metronom, mein Pacemaker, mein Kommandant. Schneller, beept er. Die Kunden warten. Prime heißt zuerst. Erstklassig. Es heißt vor allem: sofort. Ich gehe nicht gern während der Schicht aufs Klo. Das verhaut mir den Schnitt. Am schlimmsten ist es, wenn ich meine Tage habe. Beep. Beepbeepbeepbeep. Die Ware kommt auf gelben Staplern. Campingstühle. Computertastaturen. Rucksäcke. Kinderspielzeug. Ein Backblech. Zwei Kuchenformen aus Silikon, herzförmig. Ein klobiges Ding, da steht „Zorb Water Ball“ drauf. Ich packe alles in Kartons, meine Tape-Maschine macht blau-schwarze Schutzzonen um die Kartons. Ratsch-ratsch. Ratsch-ratsch.

Duht, duht, duuht,
das ist nicht mein Handscanner. Das ist Milan. Ich weiß, sein Stapler kann nicht anders klingen als die der anderen. Aber ich höre es. Die anderen machen dut, dut, dut, oder nät, nät, nät, aber er, das ist anders. Ruhiger. Sanfter. Als hätte er Angst, mich zu erschrecken, als wollte er so vorsichtig an mich heranfahren, dass er mir mit dem Arm des Staplers auf die Schulter tippen könnte. Ich mache ratsch-ratsch-ratsch und tue so, als hätte ich nicht schon längst bemerkt, dass er hinter mir ist. Dass er es ist mit seinem schönen, tiefen duuht, nicht einer von den dutdutudut-Grobianen.

Milan arbeitet seit zwei Jahren hier. Ich seit zwei Monaten.
Nur übergangsweise, habe ich gesagt.
Aha, hat er gesagt. Dachte ich auch.
Und danach?, hat er nicht gefragt. Zum Glück.
Das duht, duht hat aufgehört. Ich drehe mich um, weil seine Anwesenheit spüre ich trotzdem. Er sitzt im Fahrersitz, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Finger unter den Ellbogen eingeklemmt. Sitzt und schaut mich an, einfach so, als ob es keine Handscanner gäbe, keine Beepgeräusche, kein Prime. Auf seinem grauen T-Shirt steht Prime. Auf meinem ist nur dieser Pfeil.
Ist dir schon mal aufgefallen, dass der Pfeil vom A zum Z zeigt?, hat er letzte Woche gesagt. War es mir nicht.
Wann ist dir das aufgefallen?
Heute.
Und dann hat er es mir gleich gesagt. Was, wenn ich gesagt hätte: Ja, logisch, sieht doch jeder. – ? Milan ist nichts peinlich.

Er hilft mir, die Sachen vom Stapler zu nehmen und die fertigen Pakete aufzuladen. Ich muss aufpassen. Jeden Moment könnte es passieren, dass ich mit meiner Hand über seinen Oberarm streiche. Ihm den Arm um die Hüfte lege, nur kurz. Oder die Haare, die ihm in die Augen fallen, zur Seite schiebe. So gut kennen wir uns gar nicht. Aber ich glaube, er wäre nicht überrascht. Er fände es ganz normal. Irgendwie bin ich da sogar sicher. Der Impuls ist so stark, ich streichle stattdessen das Paket, das ich gerade auf den Stapler gelegt habe. Reibe meine Handfläche an meinem Oberschenkel. Schiebe meine eigenen Haare zurück. Er macht einen kleinen Scherz. Nichts besonderes, wirklich. Ich lache, will laut lachen, kichere von der Nase bis in den Bauch hinein und gebe ihm im Vorbeigehen mit meiner Schulter einen kleinen Rempler. Meine Schulter will da gar nicht wieder weg, von seinem Rücken, von seinem Schulterblatt.

Er ist dürr. Er hat so Arbeitsmuskeln, nichts aus dem Fitnessstudio, keine besonders definierte Brust oder wie das heißt, sondern so eine Hühnerbrust unter dem grauen Polo, aber seine Arme, seine Schultern, sein Rücken, die sind es gewohnt, acht, neun, zehn Stunden am Tag zu leisten.
Geh nicht, sagt meine Schulter, da schwingt seine Schulter ihn schon wieder auf den Stapler. Er winkt, ich auch. Ich weiß seinen Nachnamen gar nicht. Er fährt nicht weg. Es gibt kein duuht, dafür piepsen unsere Handscanner jetzt im selben Takt. Beepbeep – Beepbeep. Er drückt auf alle Knöpfe. Hebt ratlos die fleißigen Schultern.
Kaputt?, frage ich. So eine dumme Frage. Kann ein Stapler einfach so kaputt gehen?
Vielleicht, sagt Milan.

Der Chef kommt. Während ich die neuen Sachen in Kartons packe, wandert mein rechtes Auge immer wieder zum Stapler. Der Chef drückt die gleichen Knöpfe wie Milan. Und nochmal. Nichts. Er sagt zu Milan, er soll die Knöpfe drücken. Der sagt nichts, macht einfach, jetzt weiß sogar ich schon, dass da nichts passiert. Ratsch-ratsch-ratsch. Jetzt ein kleines Paket. Drei Blu-Rays. Wer schaut heute noch Blu-Rays? Ratsch. Vier Kochbücher. Ratsch-ratsch. Kopfhörer, die guten, und ein iPhone-Case mit Eulen drauf. Igitt. Ratsch. Ratsch.
Milan wartet. Der Chef ist gegangen. Ich schicke ihm ein Grinsen rüber, so mit einem Mundwinkel, sage Blää, ohne was zu sagen. Er schiebt ein Wort im Mund herum, vielleicht sogar einen ganzen Satz, es scheint gut zu schmecken, er lässt den Satz drin, er mag den Satz. Ich will wissen, was es ist.

Der Chef kommt wieder.
Ratsch-ratsch.
Mach Pause, Milan. Der Techniker kommt gleich.
Ratsch. Seitenblick. Ratsch. Seitenblick. Blick. Der Satz von vorher ist weg. Dafür sagt Milan: Gehst du mit? Der Chef schaut schon wieder ins Tablet und ist weg. Mein Handscanner sagt, dass ich schon fünf Stunden und zweiundvierzig Minuten durcharbeite. Ich drücke drauf. Pausenbeep.

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